Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
sie wirklich aussah.
Ich glaube, ich hörte mich nicht sehr überzeugend an, denn sie schüttelte den Kopf und verneinte die Unterstellung, die ich nicht ausgesprochen hatte. »Nein, Walter, es ist keine Erscheinung. Genügend Ruhe, Nahrung, Gymnastik und ...«
»Das Haar ändert sich nicht durch Gymnastik.«
» ... und etwas Färbemittel«, fügte sie hinzu, während sie einen Schritt auf mich zu machte. »Ich habe nicht gern graue Haare. Das verjagt die Männer.« Sie streckte die Hand aus und berührte meine Stirn, genau dort, wo meine Haare reichlich grau wurden. »An dir sieht es besser aus.«
Ich vermute, dies war die Gelegenheit für mich, sie in die Arme zu nehmen oder etwas Ähnliches. Aber ich war mir nicht sicher, ob überhaupt einer von uns beiden etwas Derartiges wollte. Wir hatten uns schon geliebt - ein-, zwei- oder fünfmal, je nachdem, wie man mitzählte. Ich genieße es lieber, als mitzuzählen. Das war jetzt beinahe zwanzig Jahre her, doch es funkte noch immer zwischen uns.
Aus einem Grund war es schon eine Versuchung. Aber vergiß die Hormone für einen Augenblick - obwohl ich sonst zuviel Zeit damit verbringe, zu meinem eigenen Vergnügen mit den Hoden zu denken. Andy und ich hatten uns schon recht ausgiebig und viele Jahre lang geliebt. Ihr früherer Ehemann, mein bester Freund, war jedoch tot, und vielleicht wollten wir seiner auf eine sehr private und persönliche Weise gedenken.
Aber nicht unter demselben Dach, unter dem sich meine Frau befand.
Ich kam mir irgendwie sehr edel vor, so seltsam das auch klingen mag, als ich versuchte, sie von ihrem Vorhaben abzulenken. Sowohl Andy als auch ich wußten, was geschähe, wenn wir uns zusammen auf eine Reise begeben würden. Vielleicht hatte ich sie gerade, wenn auch sehr indirekt, dazu überredet, zu Hause in Sicherheit zu bleiben.
Ich nahm ihre Hand in die meine. Ihre Finger waren weich und warm, als ich sie an meine Lippen führte.
»Meine liebe Freundin«, sagte ich, »es tut mir gut zu sehen, daß es dir gut geht.«
Verdammtes Getue. Doch man darf nicht vergessen, daß Walter Slowotski jemand ist, der sich um seine Freunde und drumherum Sorgen macht. Andy ging es anscheinend das erste Mal einigermaßen gut, seitdem ma n von Karls Tod berichtet hatte . Damit wollte ich nicht herumspielen - auf keinerlei Weise.
Nun, vielleicht sollte ich am besten ein Nickerchen machen, etwas essen oder mit jemand Nettem ins Bett steigen. Einige dieser Kombinationen wirken sehr gut, wenn man nicht weiß, was man tun soll.
Daher zog ich mich in die Räume zurück, die Kirah und ich bewohnten. Doch war niemand da. Also entkleidete ich mich, streckte mich gemütlich unter der Daunendecke aus und schlief ein.
Zwischenspiel
Der Traum ist derselbe
Der Alptraum ist immer derselbe: Wir versuchen, aus der Hölle zu fliehen. Millionen von uns strömen über die endlos weite Ebene. Alle, die ich jemals geliebt habe, befinden sich unter ihnen, und mit ihnen vertraute und unvertraute Gesichter.
Hinter uns erstreckt sich entlang des Horizonts eine kreischende Dämonenhorde, einige Gestalten wie aus einem Horrorcomic entsprungen, andere wie mißgestaltete Wölfe. Sie alle hatten mir einen so fürchterlichen Schrecken eingejagt, daß ich kaum die eisige Luft einatmen konnte.
Der Ausgang befindet sich direkt über unseren Köpfen, eine goldene Leiter, die durch die Wolken hindurch nach oben führt. Und die Menschen steigen hinauf in einem stetigen Strom, der sich nach oben durch das flockige Weiß der Wolken und darüber hinaus seinen Weg bahnt. Ich kann nicht sagen, wer schon durchgekommen ist, ich kann nur hoffen, daß meine Kinder dabei sind. Bitte, laß meine Kinder dabei sein.
Einige sind bereits durch die Wolken hindurch geklettert, aber es gibt keine Möglichkeit, daß wir alle es schaffen: Die Dämonen nähern sich zu schnell und werden einige von uns packen.
Und dann sehe ich ihn: Karl Cullinane, Jasons Vater, steht hochaufgerichtet mit strahlendem Gesicht da; Hände, Brust und Bart mit frischem und geronnenem Blutbefleckt.
»Wir müssen unbedingt die Stellung halten!« schreit Karl. »Wer ist dabei?«
Er lächelt, als ob er sein ganzes Leben lang auf diesen Moment gewartet hätte, dieser verdammte Idiot.
»Ich komme mit dir«, sagt jemand.
Einige Gestalten schieben sich aus der Menge nach vorn, einige bluten und einige gehen gebeugt. Jefferson und Franklin bahnen sich ihren Weg hindurch, begleitet von einer dicken, alten schwarzen Frau, deren Haar
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