Hüter der Flamme 06 - Die Straße nach Ehvenor
sah gut aus. Vielleicht zu gut.
Ich fingerte an dem Abwehramulett, das an einem Lederriemen um meinen Hals hing. Der kristallklare Diamantsplitter pulsierte unter der Oberfläche in wechselnden Farben, die von mattem Grün bis zu Bernstein reichten. Kein Rot, kein Indigo und keine leuchtenden Farben waren dabei.
Doch das hatte nicht wirklich etwas zu bedeuten. Denn da Andy all unsere Amulette hergestellt hatte, war sie auch in der Lage, diese Eigenschaften der Steine außer Kraft zu setzen. Nur, warum sollte sie das jetzt tun?
»Wie geht es mit der Arbeit voran?« fragte ich, mit Betonung auf ›Arbeit‹.
Sie lächelte. »Das Auspacken macht einen ganz schön schmutzig. Doch ich meine, es macht wenig Sinn, sich dabei auch noch die Kleider zu versauen.«
Selbst wenn das bedeutete, nackt in einem kalten und feuchten Verlies zu arbeiten? Falls sie sich dabei in ein oder zwei glänzenden Oberflächen gesehen hatte, würde ihr das sicherlich nichts ausgemacht haben.
Ich griff nach ihrer Kristallkugel, hielt jedoch inne und setzte dann die Bewegung fort, nachdem sie kurz zustimmend genickt hatte. Ein recht beeindruckender Gegenstand - dessen Ständer aus einer Messingschlange bestand, die den unteren Pol der Kristallkugel aufspießte.
Die Kristallkugel fühlte sich kälter und schwerer an, als sie eigentlich sollte - eben wie das Leben selbst, oder nicht?
Ich schaute in den lupenreinen Kristall, aber ich erblickte nur mein eigenes, vergrößertes und verzerrtes Spiegelbild darin. Ich hatte nicht mehr erwartet und daher auch nicht mehr bekommen.
Na ja, auch gut.
»Wir können versuchen, ihn hierher zu bekommen, indem wir ihn dazu bringen, Little Pittsburgh zu inspizieren«, schlug sie vor.
Ich brauchte erst einen Augenblick, um zu begreifen, daß Andy unser Gespräch vom vorherigen Abend wieder aufgenommen hatte, in dem es darum gegangen war, den Ingenieur, Lou Riccetti, zu einem Besuch herzulocken. Lou hatte seit vielen Jahren die Heim-Siedlung nicht mehr verlassen, daher würde es ihm wahrscheinlich gut tun, eine kleine Reise zu unternehmen und die Welt zu sehen. Andys neuester Einfall war nun, ihn zu ein er Inspektion nach Little Pitts burgh einzuladen, der Stahlstadt in der Baronie Adahan, die als Nachbarbaronie im Osten von Schloß Cullinane lag.
Das war zwar keine schlechte Idee, aber ich hasse diese Art von beiläufigen Gedankensprüngen, bei denen sie von mir fordert, die Kette all ihrer Gedanken bis zum letzten Gespräch zurückzuverfolgen.
»Schon möglich«, sagte ich. Ich machte nicht erst den Versuch, etwas an Andy zu verändern, was eigentlich nur irritierte. Da war es schon besser, das Thema zu wechseln. »Womit hast du dich gerade beschäftigt?«
Ihr Lächeln war eine Spur zu wissend. »Schlafen, Träumen, Arbeiten, Auspacken, halt das Übliche, du weißt schon.«
Ihr Tonfall war ein Hauch zu hoch, ein Hauch zu beiläufig, oder hatte mich meine eigene, verdorbene Phantasie überempfindlich gemacht? Dies wäre immerhin das erste Mal gewesen, denn noch nie hatte mich jemand beschuldigt, zu feinfühlig zu sein.
»Träume?« erkundigte ich mich.
»Träume«, sagte sie. »Du weißt schon: Geschichten, die man sich selbst erzählt, bevor man einschläft. Würstchen, die hinter Brötchen durch Tunnel herjagen, was von dieser Art.«
»Und wie ging's weiter?« Weißt du, meine Träume sind nur Träume. Jungianische Archetypen drangen tröpfelnd in die Windungen meines Verstandes ein. Ich befasse mich mit Magie, doch die Träume einer Hexe sind so armselig wie meine.
»Gar nicht«, sagte sie und hob die Hand, um das Thema zu beenden, und ließ sie dann fallen. »Nein, das ist nicht alles. Ich habe auch schon Träume gehabt, in denen ich durch endlose Straßen lief. Immer war ich verloren, immer suchte ich nach einem Ausweg. Das war überhaupt nicht gut.« Sie seufzte. »Aber es sind eben nur Träume.« Sie schaute auf ein Buch hinab und schlug mit einem ihrer kurzen Nägel gegen den glatten Ledereinband. »Vielleicht sollte ich vor dem Schlafengehen keinen Wein mehr trinken. Ich träume davon zu viel.« Wieder blickte sie auf das Buch.
Es gibt eine Möglichkeit für einen Zauberer, in die Träume von anderen einzudringen. Doch das ist für beide Seiten riskant. Es ist eine der klassischen Arten der Zauberduelle, in denen der eine versucht, den Willen des anderen zu beugen.
Sie sah zu mir auf. »Mit welcher Frage plagst du dich gerade herum?«
Ich spitzte die Lippen. »Ich bin mir nicht sicher,
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