Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Falkner wies auf den Ordner unter Hubers Arm.
»Messerstich«, gab Huber ohne jeglichen Enthusiasmus in seiner Stimme zurück.
»Lanzenstich, um präzise zu sein. Die Wunde ist viel breiter als bei jedem im Handel erhältlichen Messer. Nicht mal ein Fleischermesser hinterlässt einen derart breiten Schnitt.«
Hubers Spürsinn erwachte an diesem Morgen in Anbetracht seines Schlafmangels verzögert. »Denken Sie, dass wir es hier mit einer Serie zu tun haben, Chef?«
Falkner zuckte mit den Achseln und nahm auf der Kante von Hubers Schreibtisch Platz. Gierig zog er an seiner Zigarette, sehr zum Missfallen Hubers, der drei Wochen zuvor das Rauchen aufgegeben hatte.
»Tja, der Pathologe glaubt, dass der Ermordete am gleichen Tag gestorben ist wie Burgner, es liegen wahrscheinlich nur zwei bis drei Stunden dazwischen. Wenn ich eine Linie zwischen Wien und der Leiche im Wald ziehe und diese Linie weiterführe, könnte uns die Spur nach Deutschland führen. Ich denke, wir sollten die deutschen Behörden informieren.«
»Das heißt, der Radius wird größer.« Huber kaute am Ende des Bleistiftes herum. Er presste die Lippen aufeinander und schüttelte genervt den Kopf. »Chef ich sage es Ihnen ganz ehrlich. Dieser Fall ist nichts für mich. Wissen Sie, was mich daran so stört?«
Falkner zog die Stirn zu einem waschbrettförmigen Relief zusammen und wartete auf die Antwort.
»Ich bin zwar katholisch, aber ich bin kein Kirchgänger und habe auch sonst mit Religion nichts mehr am Hut.«
»Wo ist das Problem, Huber? Was hat denn die Religion damit zu tun? Es geht hier um zwei Leichen. Und das ist hundertprozentig Ihr Metier!«
Huber wand sich in seinem Sessel. »Diese gestohlene Lanze ist nicht irgendeine Lanze, sondern die sogenannte ›Heilige Lanze‹. Und die hat eine unglaubliche Geschichte hinter sich. Wenn ich den Mörder finden soll, muss ich erst einmal alles über diese Lanze herausfinden.«
Falkner stimmte zu. Dies war kein gewöhnlicher Mord aus Geldgier oder um sich ein paar Euro für den nächsten Schuss zu organisieren. Es ging nicht um irgendeine alte rostige Waffe, sondern um eine Lanze, die unzählige Herrscher und Kriegsherren in den Händen gehalten hatten. Nicht zuletzt glaubten viele Menschen, dass diese Lanze die echte Lanze sei, die der römische Hauptmann Jesus von Nazareth in die Seite gestochen hatte. Ja, einige waren sogar überzeugt, dass dieser Speer nach dem Heiligen Gral die bedeutendste Reliquie überhaupt sei. Damit wuchs der Kreis der Verdächtigen auf eine nicht zu ermessende Größe an.
»Ich habe mir schon so etwas gedacht, Huber. Sie sind einer meiner fähigsten Leute, aber in diesem Fall … Ich habe mich erst dagegen gesträubt, aber ich denke, es könnte uns wirklich weiterhelfen.«
Huber rutschte in seinem Stuhl vor und gab Falkner durch ein Stirnrunzeln zu verstehen, dass er dessen Andeutungen kein bisschen verstehe. Dann stützte er sich auf der Schreibtischkante auf. »Zwei Dinge, um die ich Sie bitte, Chef. Erstens wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie in meinem Büro nicht mehr rauchen und die Asche auf den Boden schnippen würden. Und zweitens wäre es schön, wenn Sie aufhören könnten, in Rätseln zu sprechen.«
Falkner nahm den Ordner zur Hand, in dem die Fotos eingeheftet waren. Er schlug die Seite auf, auf der die junge Frau zu sehen war: »Sie ist keine Polizistin, aber ich denke, wir können in diesem Fall mal eine Ausnahme machen.«
»Chef, bitte! Wovon reden Sie?«
Falkner deutete auf den Aktenordner. »Sie heißt Raphaela Grassetti, ist achtundzwanzig Jahre alt und hat Geschichte und Romanistik studiert. Die auf dem Foto …«
»Ja, und?«
»Sie ist die Nichte von Burgner, um genau zu sein, die Tochter von Burgners Schwester, und sie hat den Mörder gesehen. Sie hat ihm direkt ins Gesicht gesehen, bevor er sie ins Kurzkoma geschickt hat.«
»Also, wenn ich Ihre Andeutungen richtig verstehe, soll diese …«
»Grassetti.«
»Frau Grassetti?«
»Sie ist nicht verheiratet.«
»… soll Frau Grassetti mir bei meinen Ermittlungen helfen?«
»Tag und Nacht«, scherzte Falkner.
»Nein! Definitiv nicht. Ich wollte sie bitten, den Fall jemand anderem zu geben. Ich will ihn loswerden, verstehen Sie?«
Falkner winkte ab: »Keine Chance, Huber. Wir haben im Moment viel zu wenige Leute. Sie sind der Richtige für diese Nummer. Und sie ist sehr nett, wirklich.«
Huber verbarg sein Gesicht hinter seinen Händen, als könnte das das Unausweichliche ändern
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