Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Landsleute entsprechend der jüdischen Bestattungsregeln zu beerdigen.«
Smith ging schweigsam um die Tische herum und betrachtete die aneinandergereihten Knochen. »Hätten wir sie in Ossuarien gefunden, würde das bedeuten, dass sie schon einmal an einem anderen Ort begraben, später ausgegraben worden wären, um sie dann in Gebeinkisten erneut beizusetzen. Und uns wäre vermutlich ihre Identität klar, weil die Juden den Namen des Verstorbenen und oft sogar seinen Beruf an die Seite der Kiste eingeritzt haben. So war es auch bei dem Fund in Giv’at ha-Mivtar oder als wir das Grab der Familie des Kaiphas entdeckten.«
Smith schaute Lea an. »Damals warst du sieben und gingst noch zur Schule.« Lea nickte schelmisch. Der Professor betonte: »Kaiphas und die Mitglieder dieser Priesterfamilie haben vor zweitausend Jahren den Prozess gegen Jesus Christus geführt. Auf zwei der zwölf ausgegrabenen Grabkästen, die übrigens aus Stein waren, stand auf einer Seite der Namen Kaiphas, auf einer anderen Kiste sogar der vollständige Namen ›Josef, Sohn des Kaiphas‹. In der Gebeinkiste lagen die Überreste eines etwa 60-jährigen Mannes, zusammen mit den Gebeinen einer Frau und vier jüngeren Menschen, wahrscheinlich Angehörige seiner Familie.«
»Tja, genau das meine ich. Warum hat man diese hier nicht in Gebeinkisten gelegt?«, fragte Lea.
Smith kraulte in seinem Bart herum. »Nun, das kann viele Gründe haben. Vielleicht sind die Verwandten von Dismas kurz nach dessen Kreuzigung selbst verstorben und es gab daher niemanden, der für die Umbettung hätte sorgen können. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass man in großer Eile war, um die Toten noch vor dem Sabbat unter die Erde zu bringen. Das Grab könnte vielleicht für einen anderen vorbereitet gewesen sein, denn solch einen massiven Rollstein stellt man ja nicht mal so eben her. Es könnte auch sein, dass man auf die Umbettung in Ossuarien verzichtet hat, um sich nicht ein weiteres Mal der verwesten Leiche des ominösen Fremden nähern zu müssen. Irgendetwas stimmte mit dem nicht. Das wissen wir heute - und das spürte man schon damals.« Smith zuckte mit den Schultern. »Manche Dinge werden wir wohl nie herausfinden. Sie werden ewige Geheimnisse bleiben.«
Lea besah sich die Überreste des Skelettes Nr. 3. »Dann akzeptierst du also, dass der dritte Tote zur selben Zeit begraben wurde, wie die anderen Beiden und es sich doch nicht um ein Verbrechen aus der Neuzeit handelt?«
Smith nickte kaum merklich. »Ich schätze, ich habe keine andere Wahl. Wir müssen aber auf die Untersuchungen warten. Wenn sich herausstellen sollte, dass tatsächlich alle drei auf das gleiche Alter datiert werden können, haben wir ein echtes Problem.«
»Ein ziemlich großes sogar!«, bestätigte Lea.
XIV
Die alte Dame griff in ihrer Wohnung in einem beschaulichen Vorort Wiens nach dem Telefonhörer und wartete erregt.
»Falkner, Polizeidienststelle …«
Sobald sich der Beamte meldete, fiel sie ihm ins Wort. Sie gab sich dabei keine Mühe, ihre Erregung zu verbergen, die schon bald an Panik grenzte. »Grubner ist mein Name. Bitte, Herr Inspektor. Sie müssen dort hinfahren. Mein Mann ist in über dreißig Jahren noch nie zu spät nach Hause gekommen.«
»Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, wo wir hinfahren sollen, gnädige Frau!«
»Ins Museum natürlich. In die Schatzkammer des Hofmuseums. Mein Mann ist dort Wachmann. Seit über dreißig Jahren. Franz Burgner.«
»Ja das sagten Sie bereits. Nun beruhigen Sie sich bitte erst einmal.«
Wie viele Anrufe verlassener Ehefrauen tagtäglich bei der Wiener Polizei eingingen, zählte keiner mehr. Meistens kamen die Männer einige Stunden später betrunken nach Hause – oder sie wurden in einem Bordell aufgegriffen, nachdem sie randaliert hatten. Doch die alte Dame wollte sich nicht auf die übliche Weise abspeisen lassen und fuhr den Beamten harsch an. »Ich spüre, dass etwas passiert ist, Herr Kommissar. Es ist ihm etwas zugestoßen. Bitte fahren Sie doch mal hin. Das ist doch ihre Pflicht!«
»Einverstanden. Ich werde mit zwei meiner Kollegen zum Museum fahren, obwohl ein paar Stunden Verspätung eigentlich noch keine Vermisstenanzeige rechtfertigen.«
Frau Burgner legte auf und ging in ihrer kleinen Wohnung auf und ab.
Als die Polizeibeamten kurz darauf im Museum erschienen, kam eine am Boden liegende, junge Frau gerade wieder zu sich. Ihre langen braunen Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst und hingen ihr
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