Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
finden konnte. Er betrachtete sich im Spiegel. Früher hatte er einen Bauch gehabt, der so dick war gewesen war, dass er seine Füße nicht hatte sehen können, doch in den letzten Wochen hatte er abgenommen, und er fand, dass ihm das gut stand. Seine Haut indes war noch bleich, und feine rote Äderchen zogen unregelmäßig von einem Ohr zum anderen. Er gefiel sich dennoch und hielt sich für einen Helden. Er hatte geschafft, was seinem Vater nicht gelungen war, und die Anerkennung dafür sollte ihm sicher sein. Eine neue Ära hatte begonnen.
Eine Melodie summend verließ er sein Haus und stieg er in seinen Wagen ein. Nachdem er die ›Dreißiger Zone‹ verlassen hatte, schlug er den Weg zum Krankenhaus ein.
Auf dem Flur der Intensivstation traf er als erstes Dr. Bergau. Als dieser ihn sah, kam er direkt auf ihn zugelaufen – eine sonderbare Regung des sonst so nüchternen Mediziners.
»Gut, dass Sie kommen, Dr. Schneider. Ihren Vater werden Sie umsonst auf der Intensivstation suchen. Es geht ihm überraschenderweise viel besser.«
Schneider betrachtete den erstaunten Gesichtsausdruck des Arztes. Kam es nicht täglich vor, dass Menschen genesen und die Intensivstation lebendig, statt in einem Alusarg verlassen?
Bergau bemerkte an Schneiders Finger den stümperhaften Verband, der auf der Außenseite einen grünlich-gelben Fleck aufwies. »Haben Sie sich verletzt?«, fragte er.
Schneider winkte ab. »Ach, das ist nichts. Ich habe mich nur geschnitten.«
Bergau ließ nicht locker. »Lassen Sie mal sehen. Das eitert ja.«
Widerwillig hob Schneider die Hand und reichte sie dem Arzt entgegen. Behutsam wickelte Bergau den unsauber angelegten Verband ab und verzog das Gesicht, als er die Wunde sah. »Das können Sie nicht so lassen. Das muss dringend behandelt werden. Sie haben eine deftige Infektion. Wenn das nicht desinfiziert und genäht wird, greift die Entzündung auf den Knochen über. Wie haben Sie das bloß angestellt?«
Schneider ärgerte sich und war nicht gewillt, dem Arzt Anteil an seinem Privatleben zu geben. Er ließ den klumpigen, zusammengeknüllten Verband in seiner Jacketttasche verschwinden. »Das geht Sie nichts an«, erwiderte er barsch. »Kümmern Sie sich um Ihre anderen Patienten. Die brauchen Sie dringender als ich.«
Bergau wunderte sich über diese unangemessene Reaktion Er wusste, wie launisch und eigensinnig Patienten sein können, die sich selbst therapieren und alles besser wissen. Am Ende kamen sie dann doch mit ihren eitrigen Wunden an, weil sie sie nicht mehr im Griff hatten.
»Wenn Sie Ihren Vater suchen, finden Sie ihn auf der Inneren. 3. Stock, Zimmer 29.« »Danke«, sagte Schneider kurz angebunden und schlug den Weg zum Eingangsbereich ein. Er nahm ein Papiertaschentuch aus seiner Tasche und wickelte es provisorisch um seinen Finger. Er erreichte den Fahrstuhl und betrachtete die Menschen, die mit ihm hineingingen, sehr genau. Jeder von ihnen schaute auf die stetig zunehmenden roten Nummern auf der Anzeige oder verlegen zu Boden. Schneider tat dies nicht. Nicht nach dem, was passiert war. Er blickte provozierend, fast höhnisch in ihre Gesichter und fühlte sich ihnen überlegen. Mit zügigem Schritt eilte er über den weißgetünchten Flur und kam an all den Patienten vorbei, die in Bademänteln und Hausschuhen den Gang entlang schlurften und auf den Tag ihrer Entlassung warteten. Endlich stand er vor der Tür des Zimmers 29. Nun klopfte sein Herz doch, denn die Fragen, die er seinem Vater stellen wollte, waren nicht nur »Wie geht es dir?«, oder »Wann wirst du entlassen?«
Sein Klopfen an der Tür wurde nicht durch ein »Herein« beantwortet. Schneider trat unaufgefordert ein. Er knöpfte den obersten Knopf seines blauen Jacketts zu und wurde von dem typischen Geruch eines Krankenzimmers erschlagen. Es dauerte Minuten, bis sich seine Sinne daran gewöhnt hatten. Karl Wilhelm Schneider saß in einem Lehnstuhl vor der Balkontür und schaute hinaus. Richard betrachtete den leicht nach links geneigten Hinterkopf seines Vaters. Im Blickfeld des Patienten lag der Garten des Krankenhauses. Die Augen ruhten auf den Kronen des alten Baumbestandes. Eichen, Rotbuchen und Kastanien schufen die entspannende Illusion einer heilen Welt.
Richard näherte sich seinem Vater, der seine Ankunft bemerkt zu haben schien, zunächst aber keine Reaktion zeigte. Der Besucher zog einen Stuhl hinzu und überlegte, wie er beginnen sollte. In seinem Kopf wirbelten die Eindrücke aktueller
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