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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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Erlebnisse haltlos herum. Wie sollte er anfangen? Er zog aus seiner Außentasche ein kleines braunes Buch hervor. In dem Moment, in dem der Vater es im Augenwinkel wahrnahm, regte sich das Leben in ihm. Er drehte sich zu seinem Sohn um und starrte ihn an. »Wann hast du es gefunden? Wissen sie schon von den Büchern?« Er stellte diese Fragen, als hinge das Schicksal der Welt von ihrer schnellen Beantwortung ab. Der Alte nahm seinem Sohn das Buch aus der Hand und verbarg es unter der dünnen braunen Decke, die über seine Knie gelegt war. »Hier ist niemand, Vater. Vor wem hast du solche Angst?«
    »Ich will nicht, dass sie von Montesi erfahren. Ich bin es ihm schuldig.«
    »Francesco Montesi?« Richard deutete auf das Tagebuch. »Was bist du ihm schuldig – und wieso kannst du auf einmal wieder sprechen?«
    »Ein Bruder vom Orden war hier. Ich soll dich warnen und auf den richtigen Weg bringen. Du musst sie ihnen unbedingt aushändigen.«
    Schneiders Stirn legte sich in unzählige Falten. »Was soll ich Ihnen geben, verdammt? Ich verstehe kein Wort. Warum hast du mir nie von diesen Tagebüchern und von deinem Umgang mit Himmler erzählt?«
    Der Alte zog das kleine braune Buch unter der Decke hervor und strich mit der knochigen Hand darüber. Es war, als versetzte ihn dieses Tagebuch in die Zeit zurück, in der er es geschrieben hatte. Mit ihm kamen all die darin beschriebenen Gefühle zurück, alle Eindrücke und Empfindungen, vor allem die Erinnerung an seine ewige und einzige Liebe.
    »Was hätte ich denn machen sollen? Nach dem Krieg hätte mich jedes Wort in Gefahr gebracht. Solange diese Bücher in der Truhe waren und niemand von ihrer Existenz wusste, war alles gut. Erst vor zwei Wochen, als ich in den Keller kam, hat sich ein unsichtbares Seil um mich geschlungen und mich zur Truhe hingezogen. Wie von einer finsteren Macht getrieben, musste ich in den Büchern lesen. Mein Herz tobte wie ein Orkan, und in meinem Kopf hämmerte es genauso. Ich nahm das erste Buch zur Hand. Plötzlich wurde mir schwindelig vor Augen und mir wurde übel. Ich schaffte es noch rechtzeitig, die Treppe hochzukriechen und die Nummer der Feuerwehr zu wählen. Dann ging ich zur Tür, um Luft holen zu können, bis ich auf der Schwelle zusammenbrach.« Der Alte machte eine Pause. »Jetzt ist es also soweit. Ich dachte, ich könnte die ganze Geschichte mit ins Grab nehmen.« Schneiders Vater sah seinen Sohn eindringlich an. Bitte versprich mir eins …« Schneider fasste seinen Sohn am Unterarm an, die erste Berührung seit vielen Jahren, und flehte ihn an. »Lass sie niemals die Bücher finden, sonst ist Montesi in Gefahr.«
    »Meinst du diesen Montesi von damals?« fragte Schneider gereizt.»Wer zum Teufel ist dieser Mann?«
    »Lass den Teufel aus dem Spiel. Montesi ist ein heiliger Mann. Vielleicht sogar der einzige Heilige auf dieser verfluchten Erde.«
    Schneider lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Eine Zeit lang sagten sie beide kein Wort. Der Alte keuchte im Rhythmus seines sich auf- und niedersenkenden Brustkorbes, und mit seinen Augen warf er einen rettenden Anker zurück in die grünen Baumkronen. Nach einer Weile sagte er. »Wenn du die Lanze behältst, landest du dort, wo auch ich bald liegen werde. Das ist kein Spiel, Richard.« Schneider meinte, sich verhört zu haben. Niemand außer ihm wusste bislang, dass er die Lanze besaß, und der einzige Zeuge lag in der Pathologie.
    »Ich nehme an, du fragst dich, woher ich das weiß. Der Bruder hat es mir gesagt. Sie sind informiert.«
    Richard verlor etwas von seinem, heute Morgen noch so unbesiegbar scheinenden Selbstbewusstsein. »Sie wissen, dass ich die Lanze habe?« fragte er verunsichert.
    Der Alte nickte, während er in die Zweige schaute. »Sie wissen es, und Gott weiß es. Genaugenommen ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert.«
    Schneider löste den obersten Knopf seines Hemdes. Er ließ den Kopf ein, zwei Mal zur Seite schwenken und die Nackenwirbel knacken. Ein vergeblicher Versuch, die Anspannung zu lösen.
    »Solange die Polizei nichts weiß, was spielt es für eine Rolle?« Schneider suchte mit Leibeskräften nach dem Glück, dem er sich so nah fühlte.
    Der Alte löste sich von den Bäumen und wandte sich seinem Sohn zu. »Ich habe meine Stimme wieder, und ich weiß nicht, wie lange ich sie behalten werde. Vielleicht bis morgen, vielleicht auch für einen Monat. Was spielt das noch für eine Rolle? Mein Leben ist sowieso am Ende, das weiß jeder auf

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