Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
dieser Station.« Der Alte legte eine kleine Pause ein, holte ein, zwei Mal tief Luft. Richard schaute ihn an und ihm war, als sei er ein kleiner Junge, der Mist gebaut hatte und die Sache nun wieder geradebiegen müsse.
»Sie planen, alle bedeutenden Lanzen, die mit dieser Geschichte in Zusammenhang stehen, an sich zu bringen. Sie hoffen, dadurch die Einzige, die Wahre unter ihnen zu finden. Sie suchen die Lanze, die in Jesu Leib eingedrungen ist und von seinem Blut benetzt wurde.« Der Alte schüttelte den Kopf. Er war geschwächt von diesem Gespräch. »Doch dort, wo sie suchen, werden sie sie nicht finden. Sie suchen am falschen Ort. Die Lanzen aus Rom, Polen und Armenien sind ohnehin nur tote Replikate, aber die Lanze aus Wien ist mehr als das. Sie ist verflucht. Das Blut unzähliger Menschen klebt an ihr, weil alle von ihr nur das Eine wollten und noch immer wollen – Macht! Macht und damit verbunden Ruhm und Reichtum. Für diese Lanze ist zu viel getötet worden.«
Richard versetzte sich in die Minuten zurück, in denen er Bukowski umgebracht hatte. Ein unwiderstehlicher Drang hatte ihn beschlichen, die Lanze als das zu benutzen, was sie auch war – eine todbringende Waffe. »Ich wollte ihn nicht töten, Papa. Ich wollte nur die Lanze haben … ich wollte dir und mir beweisen, dass es möglich ist, sie zu besitzen … sie der Bruderschaft zu entziehen. Sie haben dich einen Feigling genannt.«
Sein Vater lachte höhnisch. »Es ist mir egal, wie sie mich nennen. Trotzdem bin ich mein ganzes Leben nicht zum Mörder geworden. Jedenfalls nicht durch meine eigenen Hände. Nur durch mein Versagen.«
»Was hat dieser Montesi mit der Lanze zu tun? Ist er im Besitz der wahren Lanze?«
Der todkranke Patient holte tief Luft, und der Atem rasselte in seiner Brust. Er blickte Richard an, doch dieser Blick verriet keine Antwort auf seine Frage. »Montesi ist ein guter Mensch. Ich habe ihm viel zu verdanken. Er hätte es nicht verdient, verraten zu werden.« Er bekam einen verklärten Blick. »Du musst wissen, die echte Lanze ist ganz anders. Sie ist …« Der Alte brach ab und fasste sich an die linke Brust. »Sie ist …«
***
Lea und der Professor schauten sich an. Der Blick des Professors verriet Unsicherheit und einen Anflug von Angst. Angst vor einem Paradoxon, das sein Weltbild auf den Kopf stellen würde.
Lea wurde nachdenklich. »Räuber, Diebe. Findest du nicht, dass die Kreuzigung für einen Diebstahl eine zu drastische Bestrafung ist. Ich meine, wenn man heutzutage in islamischen Ländern vom Abhacken der Hände liest, empfinden wir das auch als unmenschlich. Die Diebe gleich zu kreuzigen, ist echt hart.«
Smith räusperte sich, wie er es tat, wenn er begann, vor seinen Studenten zu sprechen. »Menschenrechte, wie wir sie heute kennen, waren in der damaligen Gesellschaft ein Fremdwort. Ob nun Dieb oder jemand, der nur unbequem war, weil er die Wahrheit sagte, die den Machthabern nicht gefiel … Schon da war man des Todes. Das ging damals ziemlich fix.«
»Ich weiß«, bestätigte Lea. »Die Römer müssen absolute Sadisten gewesen sein. Sie scheinen echte Freude am Töten gehabt zu haben, ganz gleich, auf welche Weise die Vollstreckung geschah. Allein, wenn man an die römischen Spiele im Amphitheater denkt. Zur Belustigung des Volkes wurden Hunderte von Tieren abgeschlachtet, und die Freude war noch größer, wenn dabei Menschen ums Leben kamen.«
Smith nickte. »Ich weiß nicht, welcher Geist die Römer beseelt hatte, du hast recht, Sadismus war eine ihrer großen Leidenschaften.«
Lea betrachtete die Fersenbeine der beiden Gekreuzigten. »Fürchterlich.«
»Was meinst du?«
Sie deutete auf die Löcher in den Hand- und Fußgelenken. »Na, die Praxis der Kreuzigung?« Lea verzog angewidert ihren hübschen Mund und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie ist man genau dabei gestorben?«
Smith nahm sich einen Rollhocker und setzte sich darauf. »Meine Güte, ja. Ein wirklich dunkles Kapitel der Menschheit. Allerdings nicht erst seit der Zeit Jesu. Ein berühmt berüchtigtes Beispiel einer Massenkreuzigung fand schon im Jahr 71 vor Christus statt. Spartakus unterlag damals im Sklavenaufstand gegen Crassus. Alle Versuche, die Sklaven im Kampf zu motivieren, schlugen fehl. Pompeius, der sich an den Kämpfen nicht beteiligte, nahm 6 000 entflohene Sklaven des Aufstandes fest und ließ sie an der Via Appia kreuzigen.«
»Mein Gott, 6 000 Menschen. Die Römer kannten keine Gnade,
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