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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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gemacht und Siege errungen worden. Doch nichts von all dem trat in Schneiders Leben ein. Anstatt aus ihm einen mächtigen, reichen und angesehenen Mann zu machen, stürzte sie sein Dasein in eine noch tiefere Krise.
    Zu diesem Zeitpunkt überkamen ihn zum ersten Mal Zweifel an der Echtheit der Lanze. Aber warum gab sich ›THE Lu‹ solche Mühe, sie zu besitzen? Warum wollten Hitler und Himmler sie in den Händen halten, wenn jene allseits beschriebene mystische Wirkung ihr nicht innewohnte?
    Die zweite mögliche Erklärung brachte Schneider noch mehr Verdruss. Konnte es sein, dass er kein würdiger Besitzer war, dass sich die Lanze nicht von ihm besitzen lassen wollte? Doch was war so falsch an ihm, fragte er sich. Waren all die anderen Ritter, Könige, Kaiser edler und erhabener als er? Hatten nicht auch sie für die Lanze gemordet und mit ihrer Hilfe Tausende von Menschen in den Tod geführt? Hatten nicht auch sie nur ihren eigenen Vorteil im Sinn? Und war nicht bei allen der Wunsch nach berauschender Macht das vorrangigste Motiv?
    Schneider fand keine Lösung für sein Dilemma, und er dachte nur noch an Flucht; Flucht vor der Polizei, vor dem Bankrott, vor seinem Vater und sich selbst. Einen Herzschlag lang dachte er an Selbstmord, an das wohlige Gefühl unbeschreiblicher Stille und Geborgenheit im Nichts. Doch das Spiel war noch nicht zu Ende. Während er sinnierte, schoss ihm ein rettender Name durch den Kopf. Der Name eines Mannes, der alles über die Lanze wusste und dieser Mann hieß Montesi. Dieser Gedanke belebte und erfrischte ihn, ließ neuen Mut durch seine Adern fließen und gab ihm die Kraft, sich von seinem Stuhl zu erheben und dem Büro vorerst Lebewohl zu sagen. Nur für die Zeit, die er brauchen würde, um die echte Heilige Lanze zu finden.
    Wenn die Lanze in seinem Safe nicht die Echte oder die ihm zugedachte war und wenn sein Vater von der Existenz einer anderen Lanze überzeugt war, gab es für ihn nur eines: Er musste diesen Montesi finden und aus ihm herausquetschen, wo die echte Lanze verborgen war.
     
    ***
     
    Die nächsten Tage in Schneiders Leben waren von einer seltsamen Ruhe gekennzeichnet. Einer gespenstischen Ruhe im Sinne absoluter Ereignislosigkeit, ja, Geräuschlosigkeit. Kein Telefon klingelte, kein Faxgerät spukte ellenlange Werbeseiten aus, noch nicht einmal ein Brief kam. Hätte er nicht die Beerdigung seines Vaters vorbereiten müssen, hätte er das Gefühl gehabt, auf einer einsamen Insel zu leben, auf der er in völliger Abgeschiedenheit vergessen worden war.
    Richard schlief so lange er wollte, wusch sich nicht, rasierte sich nicht und verkam nicht nur äußerlich. Die Wunde an seinem Finger blühte immer mehr. Der Schnitt wuchs nicht in Form einer sogenannten primären Wundheilung zusammen. Stattdessen quoll das innen liegende Fleisch nach außen wie eine seltene Kakteenart, die ihr gelbes Sekret an die Welt abgibt. Bei genauem Hinsehen konnte man bis auf den Grund sehen, dort wo die Knochenhaut abgestorben war und den blanken Knochen zur Schau stellte. Schneider begann, sich selbst zu verarzten: Er badete den Finger in Solebädern, verband ihn mit mehr oder weniger frischen Mullbinden und schluckte tonnenweise Antibiotika.
    Tagsüber las er die Tagebücher seines Vaters noch einmal durch. Er aß, wenn er hungrig war, und trank, wenn er durstig war, so wie an normalen Tagen, doch es waren beileibe keine normalen Tage. Er versuchte begierig, diesem Montesi auf die Spur zu kommen und aus den Schriften seines Vaters herauszulesen, was für ein Mensch das war. Er wollte in Erfahrung bringen, über welches Wissen dieser Mann verfügte. Die zentrale Frage war, wo genau er sich aufhielt. Schneider hatte herausgefunden, dass das abgelegene Kloster, in das Montesi vor über fünfzig Jahren eingezogen war und in dem er hoffentlich als alter Greis heute noch lebte, in der Toskana bei Buonconvento lag. Denkbar war natürlich auch, dass er längst verstorben war. Oder senil, mit Alzheimer und Demenz geschlagen, einer, der nur dummes Zeug erzählte. Es galt keine Zeit zu verlieren.
    Nachdem Schneider die Tagebücher fast in- und auswendig kannte, versteckte er sie an einer Stelle im Haus, wo niemand sie suchen würde. Ganz sicher nicht im Safe, den versuchte er für eine gewisse Zeit zu meiden. Er verordnete sich eine Art Lanzen-Abstinenz und beschloss, so bald wie möglich, nach Rom zu fliegen und von dort mit einem Leihwagen in die Toskana zu fahren. Er musste unter allen

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