Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
verschlossen. Alte jüdische Siedlungshäuser besaßen normalerweise Türeingänge und waren nie von Steinplatten bedeckt. Das Einzige, das man gewöhnlich mit einer runden Steinplatte verschlossen hatte, war … der Eingang zu einer Grabkammer oder einer ganzen Grabanlage. Sollte sich herausstellen, dass hinter dieser Steinplatte tatsächlich ein Grab liegen sollte – hier in der Nähe der Jerusalemer Altstadt, in der Nähe der ehemaligen Schädelstätte, im Tal des Todes –, dann hatten sie einen Fund sensationellen Ausmaßes vor sich.
III
Richard Schneider trat über die Schwelle des alten Hauses und fand nach kurzem Hin- und Hertasten den Lichtschalter in der Dunkelheit. Er drückte ihn kurz und blickte sich nach der Tür um, die träge hinter ihm ins Schloss fiel.
Die Rollläden waren hinuntergelassen worden. Vermutlich hatte die Nachbarin noch einen Schlüssel. Im Inneren des Flures drückten die milchig-gelben Decken auf Schneiders Gemüt, auch wenn sie mit Jugendstil-Ornamenten verziert waren. Er betrat das Wohnzimmer mit gemächlichem Schritt, als würde er durch ein Museum wandeln und aufmerksam die Ausstellungsstücke betrachten. Nachdem er auch hier das Licht angeschaltet hatte, blickte Richard als Erstes auf den betagten grünen Kachelofen mit den verschnörkelten Verzierungen auf der Vorderseite. Er stand in der Ecke und war hundert Jahre alt.
Trotz aller Betriebsamkeit, die Schneiders Leben an sieben Tagen der Woche in Beschlag nahm, schien er in diesen Minuten alle Zeit der Welt zu haben. Er war noch nie allein im Haus seiner Eltern gewesen. Auch nicht in seiner Kindheit. Gut, hin und wieder mal, aber immer nur ganz kurz, wenn seine Mutter zum Einkaufen in den Krämerladen um die Ecke gegangen war. Er hatte stets den unangenehmen Eindruck gehabt, als hätten die Eltern ein stilles Abkommen getroffen, ihn nie länger als höchstens eine halbe Stunde allein zu lassen. Aber warum? Sollte damals um jeden Preis verhindert werden, dass er sich frei im Haus umherbewegte und dabei etwas entdeckte, was er nie hätte entdecken dürfen? Jetzt hatte er alle Zeit der Welt.
Richard schlenderte von einem Raum zum anderen und strich mit der flachen Hand beinah liebevoll über die staubbedeckte, nussbaumfarbene Kommode mit den geschwungenen Kanten aus der Zeit des Spätbiedermeier. Er lauschte dem Knirschen der Holzbohlen unter seinen Füßen und beschloss, einem inneren Impuls folgend, sein ehemaliges Kinderzimmer aufzusuchen. Wie in Zeitlupe griff er nach dem Messinggeländer und ging zögernd die Treppe hinauf, als erwartete er plötzlich die Schelte seines Vaters. Die dritte Stufe von unten knackte noch immer verräterisch. So wie damals, wenn er sich nach dem Schlafengehen noch einmal in die Küche geschlichen hatte. Als er älter wurde, lernte er diese Stufe auszulassen.
Langsam drückte er die Klinke der Tür zu seinem Zimmer herunter und trat ein. Ein Schwall alter, verbrauchter Luft schlug ihm entgegen, als wäre seit Jahren in diesem Raum nicht mehr gelüftet worden – vermutlich war dies auch so. Er schaltete die Beleuchtung an und sah sich um. Eigenartig. Nichts, rein gar nichts hatte sich verändert, seitdem er mit neunzehn Jahren von zu Hause ausgezogen war, um in Freiburg Betriebswirtschaft zu studieren. Er schaute nachdenklich auf die verblichenen Bilder von Flugzeugen und schnellen Autos an der Wand. Warum um alles in der Welt ließ man die Dinge so, wie sie waren? Als hätte die Zeit aufgehört zu verrinnen. Galt es, die Regale, den Schreibtisch und das Bett so zu konservieren, wie man sie in der Erinnerung bewahrte? Hatte sein Vater Angst, Erlebtes unwiederbringlich auszulöschen, wenn er das Zimmer ausräumte oder es sogar hübsch herrichtete, um es als Gästezimmer zu benutzen?
Richard setzte sich auf sein ehemaliges Bett, und es bemächtigten sich so unglaublich viele Bilder seines Bewusstseins, dass er Mühe hatte, sie zu ordnen. Die Mädchen, deren Hand er gehalten oder die er, wenn er sich sicher war, dass keiner die Treppe hinauf kommen würde, geküsst hatte. Die Abende, an denen er im Bett gelegen und geweint hatte, weil ihn sein Vater wegen einer Vier in Mathematik verprügelt hatte. Hier in diesem Zimmer hatte er wie in einem Grenzland gelebt, einem schmalen Streifen zwischen zwei Welten, in dem er einigermaßen zur Ruhe kam. Die eine Welt umfasste die Empfindungen und Erlebnisse, die seine Mutter geprägt hatte. Sie war eine ausgeglichene Hausfrau aus Leidenschaft, die in ihrem
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