Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
Vom Netzwerk:
Angst vor der Strafe gestellt hatte, auf einen kleinen Hocker klettern musste, um den Schalter zu erreichen. Nun gelangte er mühelos daran. Eine einzelne, an einer Fassung baumelnde, 25 Watt starke Birne, leuchtete die Treppe unzureichend aus, und Richard gab sich Mühe, die schmalen steilen Stufen nicht zu verfehlen. Er musste den Kopf einziehen, um nicht anzustoßen. Er stockte einen Moment und erinnerte sich. Kurz bevor er als Kind in den Keller hatte hinabsteigen können, war er von seinem Vater erwischt worden – und ihn hatte wieder einmal mit großer Wucht die flache Hand im Gesicht getroffen.
    Obwohl Richard inzwischen ein erwachsener und abgeklärter Mann war, befiel ihn dieselbe sonderbare Beklemmung wie früher. Alles, was mit diesem Keller in Verbindung stand, hatte mit der Bedrohung seines Seelenfriedens zu tun. Heute wie damals.
    Der Keller hatte keine quadratische Form, die man mit schwachem Licht mühelos hätte einsehen können, sondern war wie ein verkrüppeltes »L« gewinkelt. Das Licht beleuchtete den vorderen Teil des Raumes, sodass seine Füße an mehrere Kisten, alte Stehleuchten und diverses Gerümpel anstießen. Er verursachte ein lautes Rappeln und Kratzen auf dem Kellerboden. Es war ihm unangenehm, obwohl er allein war.
    Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er entdeckte alte Sachen, die ihm gehört hatten: ein altes Fahrrad mit zwei platten Reifen, daneben eine Kiste mit Legosteinen. Richard erinnerte sich an das Feuerzeug in seiner Tasche und zog es heraus. Mit ausgestreckter Hand leuchtete er den langen dünnen Kellerstreifen aus und ging Stück für Stück weiter. Bis sein Blick in eine Ecke fiel und er instinktiv wusste, dass er den Grund seiner jahrzehntelangen Unruhe gefunden hatte. Den Kern des Geheimnisses, dass dieses Haus von jeher umfing, den Anlass für Streit und Unsegen in der Familie.
    Langsam kniete sich Richard mit dem edlen Stoff seines Anzugs auf den staubigen Boden, und sein Feuerzeug flackerte gespenstisch auf, als durch irgendeine undichte Mauerritze feuchte moderige Kellerluft strömte.
    Ungläubig und mit fast kindlichem Entsetzen starrte er auf eine geöffnete Truhe, deren wuchtiger Deckel nach hinten aufgeschwungen war. Sie ähnelte jenen Truhen, die er aus den Geschichten des Vaters kannte: den Piratengeschichten oder solchen, in denen andere alte geheimnisvolle Kisten vorkamen. Und plötzlich vermutete er, dass all diese Kisten in den Erzählungen keine bloße Erfindung gewesen waren. Sein Vater hatte diese Truhe hier zum Anlass genommen, immer neue Geschichten und Märchen um sie herum ranken zu lassen. Doch das, was er hier vor sich sah, war kein Märchen. Diese Truhe war real.
    Richard streckte seine Hand nach ihr aus und strich darüber. Sie schien aus edlem Holz gemacht zu sein und hatte schwere Eisenbeschläge an den Wänden und auf dem Deckel. An der Vorderseite war ein Riegel angebracht, in dem das geöffnete Schloss eingehängt war, als wolle jemand kurz nachschauen, ob noch alles darin verstaut sei, und um die Truhe gleich danach wieder zu verschließen. Sie war etwa einen Meter breit, fünfzig Zentimeter tief und vierzig Zentimeter hoch und randvoll gefüllt mit Büchern, zusammengehefteten vergilbten Blättern und Papierrollen.
    Schneider kramte in der Truhe herum, schob einige Bücher beiseite und verschaffte sich einen ersten Überblick. Über dem ganzen Stapel lag ein einziges aufgeschlagenes Buch. Schneider nahm es zur Hand und ließ die Seiten zwischen seinen Fingern hindurchflattern. Das war wohl ein Tagebuch, mit altdeutscher Handschrift beschrieben. Leider war gar nicht daran zu denken, auch nur eine Zeile in der Dunkelheit entziffern zu können. Er legte das Buch zurück in die Truhe, klappte den Deckel zu und steckte das Feuerzeug in die Tasche zurück. Er versuchte die Truhe anzuheben, doch schon der erste Versuch ließ ihn das Vorhaben abbrechen. Sie mochte gut dreißig Kilo wiegen. Ein Bandscheibenvorfall, den er ein Jahr zuvor gehabt hatte, mahnte ihn zur Vorsicht, und er beschloss, die Kiste hinter sich her über den Boden zu schleifen, bis der Lichtkegel der schwachen Funzel das Entziffern der Schrift erleichtern würde.
    Richards Herz raste und es spielte keine Rolle mehr, wie alt er war, welche herausragende Position er bekleidete, wie viel Geld er besaß und ob er einen Nadelstreifen-Anzug trug. Wichtig war nur, dass er sich endlich, nach über vierzig Jahren, als Junge fühlen durfte, der darauf pfiff,

Weitere Kostenlose Bücher