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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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Glauben ruhte und mit Milde und Liebe dem Leben in diesem Hause ihren Stempel aufdrücken wollte. Durch sie erlebte Richard Güte und Barmherzigkeit, Klarheit und Sauberkeit, Bibelworte und Hoffnung. Er dachte sofort an Weihnachtslieder und den Duft von Gebäck, an die Schürze vor dem Bauch und den Löffel, den sie ihm zum Abschmecken der Soße reichte.
    Doch da gab es auch die Welt seines Vaters. Und während die Welt der Mutter klar und eindeutig zu beschreiben war, hatte sich die Erinnerung an die Welt seines Vaters als undurchsichtig und geheimnisvoll in sein Gedächtnis eingebrannt. In dieser anderen Welt regierten Strenge und Willkür, Unberechenbarkeit und Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben. Hier schwebten lautlos ungelöste Konflikte und nicht erfüllte Träume wie Dämonen durch die Räume, und er spürte noch, wie die flache Hand seines Vaters ihn auf der Wange traf, heiß und ungerecht. Keine Miene hatte der Vater bei seinen Schlägen verzogen, er strich sich danach nur den schwarzen Schnurrbart in beide Richtungen glatt und rückte die ebenfalls schwarze Nickelbrille mit dem Mittelfinger dichter an die Nasenwurzel heran.
    Wann immer sich die beiden Welten trafen und sich die Warmfront mit der Kaltfront vereinte, gab es Gewitter. Und der einzige Zufluchtsort vor diesem Sturm war hier, in diesem, seinem Zimmer gewesen. Doch bisweilen gab es auch lichte Momente innerhalb des väterlichen Verdrusses. Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch finstere Gewitterwolken bahnten. Dann nahm sich Karl Wilhelm seinen Sohn vor, setzte sich ihm gegenüber und erzählte ihm Geschichten. Fantasiegeschichten von großen Helden, von Kampfgetöse, klappernden Schwertern und rasselnden Säbeln. Diese Geschichten sprudelten aus ihm heraus, so lebendig, als hätten sie nur darauf gewartet, befreit zu werden. Dann glänzten die Augen des Vaters und alles an ihm wurde wach. Sein krummer Rücken richtete sich auf, die Falten auf der Stirn glätteten sich und eine Ruhe erfüllte den Raum, als wollte die Zeit stehen bleiben. Dann regierte der Frieden, und man hatte den Eindruck, als sei der Vater ganz bei sich. Als sei er zu Hause angekommen. Solche Abenteuergeschichten wollten Richard in die Welt hinauslocken, damit er es erleben könnte, das Rasseln und Klirren der Schwerter, den Kampfschweiß auf der Haut. Der Gedanke an die Mutter hielt ihn zurück, ihm war, als bräuchte sie ihn dringender als er seine Freiheit.
    Wie lange Dr. Schneider in seinem Zimmer gehockt hatte und in die vergessenen Welten eingetaucht war, konnte er später nicht mehr nachvollziehen. Doch plötzlich kam ihm ein Gedanke und verband sich mit der Erinnerung an Geräusche, abgehakte Worte und Streit. Jetzt wusste er wieder, was die Mystik dieses Hauses ausgemacht hatte: der Keller, zu dem der Zutritt unter strengster Strafandrohung verboten war; das Knarzen eines alten Schlosses und das Quietschen der Türangeln wie beim Öffnen eines alten Schrankes. Auf einmal fielen ihm Dinge ein, die er seit vierzig Jahren in sich begraben glaubte. Wie er es gehasst hatte, wenn seine Eltern sich stritten. Das war zwar nie vor seinen Augen geschehen, aber immer vor seinen Ohren. Das Haus war hellhörig gewesen, aber weil die Gespräche meist im Keller stattgefunden hatten, bekam er nur Wortfetzen mit: »Lass die Vergangenheit ruhen, Karl« und »Treib uns nicht ins Unglück«. Worum es sich bei diesen Streitigkeiten genau gehandelt hatte, war Richard trotz drängenden Nachfragens nie erzählt worden.
    Irgendwann hat er aufgegeben zu fragen. Sollten die Eltern ihre Probleme doch alleine lösen. Es hatte ihn nicht mehr interessiert, bis zu diesem Tag, an dem er sich in die Vergangenheit zurückversetzt fühlte. Und diesmal beschloss er, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Er verließ sein Zimmer und ging mit klopfendem Herzen die Treppe zum Erdgeschoss hinunter. Der Zugang zum Keller erfolgte durch eine unscheinbare Holztür neben der Küche, deren Schlüssel erfreulicherweise im Schloss steckte. Als Richard die Klinke in die Hand nahm, bemerkte er, dass die Tür nur angelehnt war, ein Zustand, den er in den neunzehn Jahren seines Aufenthaltes in diesem Haus nur ein einziges Mal erlebt hatte.
    Mit der rechten Hand griff er nach dem vorsintflutlichen Lichtschalter, der mit einigem Kraftaufwand gegen die Federspannung knackend gedreht werden musste. Er erinnerte sich daran, dass er sich damals, als die Tür unverschlossen gewesen war und er die Neugierde über seine

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