Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
was die Eltern sagten und sich einen Dreck um ihre Verbote scherte.
Mit Mühe schaffte er es, die Truhe in den vorderen Bereich des Kellers zu zerren. Er sah mit Freude, dass das Licht ausreichte, um sich ein ungefähres Bild von dem zu machen, was ihn derart in Aufruhr gebracht hatte. Ihn, den Chef eines der erfolgreichsten Unternehmen Frankfurts. Schneider kniete sich erneut in den Schmutz, diesmal mit beiden Beinen. Er verschwendete keinen Gedanken daran, dass er seine Hose ruinieren würde, seine Ahnung sagte ihm, dass der Inhalt dieser Truhe jeden Einsatz rechtfertigen würde. Er öffnete sie wieder und ließ den Deckel nach hinten gleiten. Er nahm das oberste Buch, das zuvor aufgeschlagen auf dem Stapel gelegen hatte. Seine Finger strichen über den ledernen Einband und trotz des dämmerigen Lichtes, begriff er, wie alt diese Bücher waren.
Er schaute auf die Vorderseite des Umschlages und las:
Tagebuch Nr. 16 vom 11. Juli 1940 bis zum 28. September 1940.
Er schlug das Buch auf und blätterte zur ersten Seite. Er musste die Augen zusammenkneifen, die Schrift war zunächst nur mit Mühe zu lesen. Kleine Buchstaben, sorgfältig geschrieben, wie ein Buchhalter es nicht hätte besser machen können. Richard erfasste die ersten Zeilen, als er auf einen Namen stieß, der sein Blut in den Adern gefrieren ließ. Im Tagebuch seines Vaters stand der Name des größten ihm bekannten Unmenschen.
Schneider stand trotz der kühlen Luft in diesem Gemäuer der Schweiß auf der Stirn und er begann die weiteren Zeilen zu entziffern. Dabei war er so konzentriert, dass er das melodische Klingeln in seiner Jackentasche erst nicht bemerkte. Doch dann holte es ihn mit Macht in die Gegenwart zurück. Richard schaute auf das Display seines Handys und erkannte die Nummer von Blome. Verflucht, er sollte doch abends anrufen. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es bereits Abend war.
»Gerd, es ist im Augenblick ungünstig«, sagte Schneider und das Rauschen bescheinigte den beiden Männern einen extrem schlechten Empfang.
»Richard, wir müssen dringend miteinander reden. Es ist etwas passiert. Kannst du in die Firma kommen?«
»Nein, verdammt. Kann ich nicht. Was ist denn los?«
»Der Aktienkurs von Comequad sinkt unter eine kritische Grenze. Du weißt, wie viel wir da investiert haben!«
Unwillig lenkte Schneider ein. »Okay, ich komme. Ich bin in einer halben Stunde bei euch.«
»Besser in zehn Minuten«, hörte er Blome noch, als die Verbindung abbrach.
Schneider ließ das Handy zurück in seine Jackentasche gleiten und blickte auf das aufgeschlagene Buch. Mit einem hörbaren Knall schlug er es zu und legte es an die Seite.
Tagebuch Nr.16 . Wo zum Teufel ist Nr.1? Hektisch kramte er in der Truhe herum, räumte die Bücher zur Seite, fand eine Armbinde mit einem SS-Abzeichen darauf und überflog die Nummern auf den Buchdeckeln: 15, 7, 3 , endlich – da: Nr. 1 und 2 .
Er hielt die Tagebücher in den Händen und las erstaunt:
Tagebuch Nr. 1 vom 12. Februar 1939 - Die Phase Himmler
Schneider schob die beiden ersten Bände in seine linke Jackentasche, rannte die Treppe hoch, schaltete das Licht aus und verließ das Haus. Warum er eigentlich gekommen war, hatte er in dem Augenblick vergessen, als er das Haus betreten hatte. Die feucht-kalte Luft kroch zwischen seine Kleidung und ließ ihn frösteln.
Geistesabwesend und zügig fuhr Schneider durch die Straßen Frankfurts, wobei weder die Geschwindigkeitsanzeige, noch dunkelorange Ampeln Zugang zu seinem Gewissen fanden. Er konnte es sich leisten, geblitzt zu werden. Er nahm sich nicht die Zeit, in die Tiefgarage zu fahren, sondern parkte unmittelbar vor dem imposanten Bürokomplex, in dem die NIC ihren Sitz hatte. Den Autoschlüssel steckte er zu seinem Handy und ertastete mit der linken Hand die dünnen Bücher in seiner Tasche. Die Phase Himmler . Was um alles in der Welt soll das bedeuten? Er wusste zwar, dass sein Vater im Zweiten Weltkrieg »gedient« hatte, wie er es nannte, aber dass dieser trockene Mann ein besonderes Verhältnis zu Heinrich Himmler gehabt haben sollte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber wie sein Vater gedient hatte, war ihm auch nie ganz klar geworden. Im Krieg an der Waffe war er jedenfalls nicht gewesen. Er musste unter dem Begriff »dienen« offensichtlich etwas anderes verstanden haben. Sein Vater, der langweilige Postbeamte? Ein wagemutiger Soldat, der mit einer Waffe im Anschlag zwischen den Häuserreihen hin-und
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