Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Mosche in gebrochenem Englisch.
Petrov wandte sich blitzartig zu ihm um. »Sehr gut. Damit fehlen Ihnen jedoch elementare Zwischenergebnisse, junger Mann.« Er wandte sich den anderen zu und klimperte mit einem Schlüsselbund. »Sie müssen umdenken. Völlig umdenken. Verlassen Sie die eingeschlagenen Denkbahnen, weg vom Unmöglichen hin zum Machbaren. Denken Sie einfach … RELATIV!«
»Soll das eine kleine Anspielung auf Einstein sein, lieber Kollege?«, schmunzelte Smith.
»Genau, genau. Der gute alte Albert. War zwar ein bisschen verrückt, aber er hatte, verdammt noch mal, in allen Punkten recht – und das schon vor 100 Jahren.« Petrov schüttelte den Kopf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Was wollte ich sagen? Ach ja, Einstein. Verrückt. Ich erklär es Ihnen.« Seine Zuhörer sahen sich an und verkniffen sich ihr Grinsen nicht. Petrovs Augen erschienen riesig hinter den dicken Gläsern seiner Brille, sie funkelten in diesem Augenblick heller als alle Strahler an der Decke. »Kommen Sie mit. Alle. Hier rüber.« Seine Schritte waren schnell, und seine Beine erreichten eine unglaubliche Spannweite. Es wirkte von hinten wie das Schnellen zweier Blattfedern. Dieser Anblick allein hätte ausgereicht, um einem Zuschauer die Tränen in die Augen zu treiben – zumindest, wenn er nicht den gebotenen Respekt vor dem Genie des Wissenschaftlers besaß.
Petrov führte die Gruppe zu einer Anlage, die an das Miniaturmodell eines Atomreaktors erinnerte. Er baute sich vor der Gruppe auf, hob schulmeisterlich die Hände und begann seine Ausführungen.»Da ich Ihren Wissensstand nicht kenne, abgesehen von Professor Wagner, dem ich gestern alles versucht habe, klarzumachen, beginne ich am besten ganz von vorn.«
»Entschuldigung Professor Petrov, wenn ich Sie unterbreche, aber ich müsste mal …«
»Was bitte müssen Sie?« Petrov verzog verärgert das Gesicht. Er hasste Unterbrechungen.
»Ich müsste mal ... zur Toilette!«, drängte sie.
»Ach du meine Güte. Auch das noch. Toilette? Frauentoilette?« Petrov ging auf einem Fleck von einem Meter Durchmesser auf und ab. »Wir haben hier keine Toilette, ich meine eine spezielle für Frauen und so.« Man spürte ihm seine Hilflosigkeit ab. Er erblickte einen Assistenten und winkte ihn herbei. »Strettler, bitte bringen Sie die junge Dame zu einer Toilette.«
»Stringer, Herr Professor.«
»Wie bitte? Na gut, dann eben Stringer. Irgendeine Toilette bitte.« Petrov begann seine kleine Runde, während Lea mit tippelnden Schritten dem Assistenten folgte. Der Wissenschaftler murmelte etwas wie: Mist, noch mal von vorn anfangen.
Nach fünf Minuten stand Lea erleichtert vor dem Kernreaktormodell.
»Können wie dann jetzt?«, fragte Petrov und behielt Lea im Auge. Sie nickte beschämt und sagte kein Wort.
»Gut fangen wie eben noch mal an. Relativität! Was heißt das überhaupt? Täglich benutzen Sie Sätze wie: ›Ich bin relativ klein oder relativ arm oder relativ dick‹ oder so ähnlich. Wir wollen damit andeuten, dass es eigentlich keine absolute Größe gibt. Wir schätzen unseren Reichtum als relativ hoch ein gegenüber der Armut eines Penners, aber dafür wieder relativ klein gegenüber jenem von Bill Gates. Ist doch so oder?« Petrov schaute abwechselnd in die Gesichter seiner Zuhörer und erwartete Zustimmung. »Einstein fand heraus, dass auch ›Zeit‹ keine universelle Größe ist, die von allen Uhren auf der ganzen Welt in gleicher Weise gemessen wird. Er behauptete, jeder hätte seine eigene Zeit. Will sagen: Die Uhren stimmen nur dann überein, wenn sich diese relativ zueinander in Ruhe befinden, nicht aber, wenn sie sich in relativer Bewegung befinden.«
Petrov faltete die Hände vor der Brust und spitzte die Lippen. Dann sagte er: »Ich gehe davon aus, dass Ihnen diese Dinge aus dem Physikunterricht geläufig sind.« Alle nickten, obwohl weder Lea noch Mosche sich wirklich an ihren Physikunterricht erinnern konnten. Sie hörten sich all diese Dinge an, weil sie einen zweitausend Jahre alten Toten gefunden hatten, der neuzeitliche Implantate in seinem Kiefer trug. Petrov fuhr fort. »Sie alle kennen wahrscheinlich folgendes Phänomen: Zwei Flugzeuge fliegen in entgegengesetzter Richtung um die Erde. Beide Passagiere tragen Armbanduhren, doch die Uhr des Passagiers, der nach Osten fliegt, zeigt etwas weniger Zeit an, als die Uhr des anderen, der nach Westen fliegt. Das heißt, für den Passagier, der von Osten nach Westen fliegt, vergeht
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