Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Brunnen …« Huber folgte ihrem ausgestreckten Arm, »… ist der Fontana Nettuno, nach dem gleichnamigen Meeresgott benannt.« Raphaela sah Huber an. »Langweilen dich meine Erklärungen? Wir müssen das nicht tun. Ich kann dich auch gleich zum Hotel schleifen, wo du dich ins Bett legen, die Decke über den Kopf ziehen und all das verschlafen kannst. Ich für meinen Teil werde allerdings noch lecker essen gehen und den Abend am Trevi Brunnen genießen.«
Huber setzte sich auf seinen Koffer und griff nach Raphaelas Hand. Sie stellte ihren Koffer neben seinen und setzte sich zu ihm. Der Himmel war von einem makellosen Blau und mit feinen Schön-Wetterwölkchen durchzogen, die aussahen, als hätte Michelangelo oder Raphael sie dort oben mit seinem Pinsel verewigt. Ein lauer warmer Wind wehte über die Piazza und bewegte Raphaelas langes Haar. Wenn man es genauer betrachtete, hätte es für Huber nichts Angenehmeres geben können, als auf diesem Platz an der Seite einer attraktiven jungen Frau zu sein. »Es tut mir leid, Raphaela. Ich bin ein Idiot, du hast völlig recht. Du bist so lebensbejahend, versprühst eine Energie und Freude und ich … Ich grummle vor mich hin und habe schon wieder alles vergessen, was du mir über die Brunnen erzählt hast.« Raphaela sah ihm direkt in die Augen und sah dort eine tiefe Trauer. Sie kannte ihn nicht genug, um die nötige Erklärung zu erahnen. »Ist es das Gespräch mit dem Kardinal, das dich noch bedrückt?«
Kaum merklich schüttelte Huber den Kopf. »Nicht direkt, aber es hat alte Wunden aufgerissen. Dinge, die ich viele Jahre verdrängt und nie wirklich verarbeitet habe.«
»Willst du darüber reden?«
Huber zögerte und sah sie an. Dann lachte er. »Du bist wirklich eine tolle Frau, weißt du das?«
Raphaela zog die Brauen hoch und wusste nicht, wie sie auf dieses spontane Kompliment reagieren sollte.
»Du hast erst vor einem Jahr deinen Vater verloren und vor ein paar Tagen deinen Onkel. Du lässt dich von mir in die Pathologie zerren und siehst scheinbar gelassen einer Obduktion zu, die vermutlich genau so bei deinem Onkel durchgeführt wurde. Drei Tage später schwärmst du von Wiener Malern aus den Fünfzigern und nun …« Er überlegte sich seine nächsten Worte. »Du bist entweder oberflächlich und kalt …«, Huber winkte schnell ab »… was ich jedoch nicht glaube, oder du bist eine starke Frau, die ihr Leben meistert und jeder Situation das Beste abringen kann. Du steckst so voller Leben und Vitalität, dass ich dich darum beneide. Verzeih mir bitte, dass ich solch ein Banause bin.«
Sie lächelte ihn liebevoll an und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du wolltest mir doch erzählen, was dich bedrückt.«
»Na, ja, wie ich schon im Vatikan erwähnt habe. Es betrifft meine Familie. Meine Vergangenheit, beziehungsweise die meiner Großeltern.«
»Die Sache mit deinem Großvater?« Huber nickte nicht, sondern betrachtete ihre Schönheit. Er holte tief Luft. »Ich kann nicht ertragen, mit welcher Arroganz die katholische Kirche noch immer ihre Schandtaten von vor sechzig Jahren vertuscht. Jeder von uns wird vielleicht mal für alles zur Rechenschaft gezogen, aber die Kirche tut so, als sei sie davon ausgenommen.«
»Was meinst du genau? Was ist damals passiert?«
»Ganz einfach. Nicht nur mein Großvater wurde von den Nazis umgebracht, sondern auch sein Bruder und dessen ganze Familie. Sie wurden im KZ Mauthausen vergast, nachdem sie eine Weile für die Nazis geschuftet hatten und später als nicht mehr ›effizient‹ betrachtet wurden. Meine Großmutter wurde mehrfach von den Wärtern vergewaltigt. Von Männern, deren Gewissen gar nicht erst anschlug, weil das ja eine Halbjüdin war. Mein Vater war vierzehn und konnte mit sieben anderen Jungen aus dem KZ abhauen. Er hat überlebt. Die Jungen haben sich jahrelang auf einem alten Bauernhof versteckt, und er hat seinen Vater nie wiedergesehen. Meine Großmutter ist sechs Jahre nach Kriegsende in der Psychiatrie gestorben.« Huber blickte in Raphaelas betroffenes Gesicht.
Raphaela erhob sich von ihrem Koffer und ging ein paar Schritte. »Das tut mir leid, Alois. Ich kann verstehen, dass dich das bitter macht. Doch wie muss es erst den unzähligen Juden ergehen, die den Holocaust überlebt haben.«
Huber sah sie von der Seite an. Ihre braunen Augen reflektierten die Abendsonne Roms, und das Haar fiel sanft an ihren Schultern herab. Er fand ihre Frage zu ernst, um an Flirten zu denken. »Ich kann mir
Weitere Kostenlose Bücher