Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
zehn Zentimeter größer als die beiden anderen, hat intakte Gliedmaße und einen kräftigen Knochenbau. Was ist mit seinem rechten Fuß?« Smith sah zu Lea auf.
Seiner Aufforderung folgend trat sie neben den Professor. »Nun, es sieht so aus, als wäre sein rechtes Bein ein wenig kürzer als das linke und der Fuß weist knöcherne Anomalien auf. Wenn ich die Messungen des Körperbaus und die vorläufige Rekonstruktion richtig ausgewertet habe, hat dieser Mann hier gehumpelt, zumindest barfuß und ohne ausgleichende Einlagen in seinen Schuhen.«
Die Archäologin zeigte auf einige Knochen: »Wie es scheint, wurde er nicht gekreuzigt, wie die beiden anderen, und falls doch, hat man ihn nicht angenagelt, sondern angebunden.« Sie wartete auf eine bestätigende Reaktion des Professors. Da der aber schwieg, deutete sie auf den Brustkorb des Skelettes und zeigte auf eine Rippe. »Sehen Sie hier! Auf der linken Seite des Toten zwischen der dritten und vierten Rippe könnte es eine Verletzung gegeben haben.«
Der Professor rückte seine Brille zurecht, legte die Stirn in Falten und beugte sich vor. Lea deutete auf einen Befund an den Rippen. »Hier sind scharfe Schnittwunden zu sehen, die von einem Messer oder einem Schwert stammen könnten. Was halten Sie davon?«
Es schien, als sei Smith in Gedanken versunken, und es dauerte eine geraume Zeit, bis er antwortete. »Sehr gut bemerkt, Frau Weizmann.« Er nickte unmerklich und brachte ein Raunen hervor. »Ich habe so eine Verletzung schon einmal gesehen, und zwar bei einem ähnlichen Fund wie diesem. Diese Kerben unterhalb der dritten und oberhalb der vierten Rippe passen exakt zu dem Profil einer alten römischen Lanze, die um die Zeit der römischen Besetzung Jerusalems verwendet wurden.«
Lea schaute den Professor skeptisch an. »Sie wollen ernsthaft behaupten, Sie könnten anhand dieser kleinen Kerben in den Rippen des Toten auf die Todesursache schließen und darauf, welche Waffe verwendet wurde?«
»Nun, ich kann nichts dafür, aber ich habe genau die gleiche Verletzung schon einmal gesehen. Außerdem wird man anhand einer rasterelektronischen Aufnahme meine Vermutung bestätigen können. Es war ja im Römischen Reich nicht ungewöhnlich, dass jemand durch einen Lanzenhieb umkam. Tausende sind auf diese Weise gestorben, und ich habe mir im Laufe meines Lebens eine Menge verschiedener Skelette angesehen, die unterschiedliche Schliffmuster an den Rippen trugen.«
Lea behielt den Professor im Auge. Der nahm die Brille von der Nase und blickte mit einem gutmütigen, schelmischen Ausdruck in Leas Gesicht. »Sie haben doch Archäologie studiert. War nicht ein bisschen römische Geschichte dabei?«
Lea nickte verlegen und merkte, wie sie errötete. Sie leitete das Institut der IAA zwar schon seit zwei Jahren, anfangs war sie aber nur kommissarisch eingesetzt worden; so lange, bis sich Sonneberg wieder erholt hätte. Als der ehemalige Leiter vor einem halben Jahr verstarb, wurde sie fest angestellt. Dennoch, und das wusste sie nur allzu gut, war sie ein junges Küken in dieser Branche.
»Nun gut«, begann Smith und fühlte sich in der Rolle des Referenten sichtlich wohl.»Sie erlauben, dass ich ein bisschen aushole. Also, es ist so: Man unterscheidet in der römischen Geschichte im Wesentlichen drei Epochen: zunächst die Monarchie, die wir von 753 bis 509 vor Christus datieren können, danach die Zeit der Republik. Sie erstreckt sich von 509 vor bis 27 nach Christus und schließlich die Kaiserzeit, von 27 bis 476 nach Christus. Wie wir wissen, beherrschte Rom um circa 100 vor Christus den gesamten Mittelmeerraum. Zu diesem Zeitpunkt besaßen die Römer eine Milizarmee, in der jeder Soldat für seine Ausrüstung selbst aufzukommen hatte. Da können sie sich vorstellen, dass Rüstungen und Waffen sehr unterschiedlich waren. Eigentlich ein nicht haltbarer Zustand. Die nicht so vermögenden Teilzeitlegionäre trugen rechteckige Brustplatten, während sich die reichen Miliz-Legionäre keltische Kettenpanzer leisten konnten. Das führte dazu, dass circa 100 vor Christus der damalige römische Konsul Marius eine umwälzende Heeresreform durchführen ließ, die zu einem echten Berufsheer führte.«
Smith verschränkte seine Arme vor der Brust und wanderte im Sektionsraum auf und ab. Er war es gewohnt, vor Studenten zu sprechen, und es gelang ihm selten, seine Ausführungen pünktlich zu beenden. Er fuhr fort. »Seit dieser Zeit stand die Legion allen römischen Bürgern offen
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