Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Als er sich noch einmal umdrehte, verdeckten der Arzt und die Schwester den Blick auf seinen Vater. Hilflos suchte Richard das Weite. Was konnte er schon ausrichten, wenn jemand im Sterben liegt?
Als Schneider zu Hause ankam, lag ein Fax auf seinem Tisch. Er überflog es flüchtig: Blome fasste darin die Neuigkeiten des Tages bezüglich der Comequad-Affäre. Richard hätte sich eigentlich aufregen und sofort zum Hörer greifen müssen, um Blome diverse Anweisungen zu geben und Personal zu entlassen, damit die Kosten im Rahmen blieben. Er tat nichts dergleichen. Stattdessen ging er in die Küche, öffnete den Kühlschrank und stopfte verschiedene Dinge in sich hinein, ohne sich danach erinnern zu können, was er gegessen hatte. Im Wohnzimmer goss er sich anschließend einen doppelten Glenfittich ein. Seine Verwirrung hatte ihn noch immer nicht vollends verlassen. Wer, um Himmels willen, war diese ominöse Bruderschaft? Lächerlich !, dachte er. Wir befinden uns im einundzwanzigsten Jahrhundert!
Dann nahm er den zweiten Band der Tagebücher zur Hand, setzte sich auf denselben Platz wie am Vorabend und begann zu lesen. Er wollte schnellstens Licht in das Dunkel dieser merkwürdigen Verschwörungstheorien bringen und hoffte, die vor ihm liegenden Bücher würden ihm dabei behilflich sein.
7. Okt. 1939
Himmler wird vom Führer mit der Leitung des »Reichskommissariats für die Festigung deutschen Volkstums« betraut. Einen längeren Namen für den Begriff der ethnischen Neuordnung hätte er wohl nicht finden können. In erster Linie soll Himmler die Rückwanderung von Volksdeutschen in die besetzten polnischen Gebiete organisieren. »Erweiterung des Lebensraumes«, ihr Traum wird Wirklichkeit. Gleichzeitig sollen jedoch sogenannte volksschädigende Einflüsse von »volksfremden Bevölkerungsteilen« ausgeschaltet werden. Eine undurchsichtige Umschreibung, mit der wohl vor allem Juden, Bolschewisten und Kommunisten gemeint sind.
28. Okt. 1939
Himmler betont öffentlich die Wichtigkeit der Reinerhaltung arischen Blutes. Er weist Männer und Frauen sogar an, außerhalb ehelicher Bindungen für Nachwuchs zu sorgen. Er ist besessen von der Idee, eine neue Rasse zu züchten. Blut, Blut, Blut. In letzter Zeit redet er nur noch von Blut. Die SS will sogar die Patenschaft für alle Kinder arischen Blutes übernehmen, deren Väter an der Front fallen.
Diese Aussagen decken sich mit seinen gestrigen Erzählungen über einen Verein oder eine Organisation, die sich »Lebensborn« nennt, eine Unterorganisation des »Ahnenerbe e.V.« Bin gespannt, was als Nächstes auf seiner Liste der Menschenzucht steht. Erstaunlich, dass er bezüglich meines Stammbaumes bisher keine Nachforschungen angestellt hat.
30. Okt. 1939
War endlich mal wieder im Kino: »Abenteuer in China« mit Clark Gable. Konnte für zwei Stunden alles vergessen – hervorragend. Morgen holen mich die Tatsachen wieder ein.
1.Nov. 1939
Himmlers Macht tritt nun offen zutage. Verhaftungen wegen Arbeitsniederlegung in einem Rüstungsbetrieb sind an der Tagesordnung. Zwei Männer wurden auf der Stelle hingerichtet. Mich wundert, wie konsequent er durchgreift. Traut man ihm gar nicht zu, wenn man ihm gegenübersteht.
Ich habe noch nicht erwähnt, dass ich nun schon das achte Mal bei Himmler war und mich in seiner Bibliothek dem Studium seiner Tagebücher hingebe. Die strenge Auflage, dass keines seiner Bücher je diesen Raum verlassen dürfe, war mir nur recht, denn auf diese Weise verbringe ich die kalten Wintertage in einem warmen Raum, erhalte von Zeit zu Zeit bitteren Magentee und manchmal auch eine kleine Mahlzeit. H. bekommt oft Besuch von Männern, die ich aus der Presse kenne – hohe Beamte und Regierungsvertreter. Heydrich geht ein und aus, betrachtete mich zu Beginn mit argwöhnischen Blicken, hat sich aber mittlerweile an meine Anwesenheit gewöhnt, wie die vielen anderen auch. Es ist in einer Zeit des Krieges schon seltsam, dass niemand an meiner Person Anstoß nimmt. Ich könnte doch genauso gut ein Spion sein oder dem Widerstand angehören. Doch wenn ich in meiner Ecke sitze und mir pausenlos Notizen aus den Tagebücher Himmlers mache, scheint niemand ernstlich Kenntnis von mir zu nehmen. Ich bin wie ein unsichtbarer Geist in diesem Haus, ein selbstverständlicher Schatten, ein nicht mehr wahrgenommenes Möbelstück.
Die Einzige, die mich mit sehr viel Liebe versorgt, ist Himmlers Sekretärin Hedwig Potthast. Sie hält stets ein Auge auf mein
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