Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
soll zur Sprache kommen? Was ist, wenn er am nächsten Tag schon tot ist und ich nicht mehr mit ihm darüber reden kann?
»Wie lange geben Sie ihm noch, Doktor? Ich meine: Glauben Sie, dass er durchkommt? Was passiert, wenn ich ihm doch eine Nachricht übermittle, die ihn aufregt?«
Bergau nahm den Pieper aus der Tasche und blickte auf das Display. Schnell beendete er das Gespräch. »Ich habe es Ihnen schon gesagt. Es könnte sein Ende sein, wenn er sich aufregt. Er ist ein sehr alter Mann.«
Schneider wandte sich wortlos von dem Arzt ab, der eilig und gereizt den Flur entlang lief und dem Ruf seines Piepers folgte.
Mit einem grünen OP-Kittel, dem Mundschutz und den Klocks bekleidet, betrat Richard die Intensivstation. Auf Anweisung der Schwester hatte er das Waschzeug und den Schlafanzug im Vorraum neben der Schleuse lassen müssen. Er schlich zum Bett seines Vaters und betrachtete die Kanüle, die in der Vene auf dem Handrücken steckte und die Haut darüber aufwarf. Er merkte, wie ihm schwindelig wurde.
Er setzte sich am Fußende des Bettes auf die Kante und betrachtete seinen Vater, den Schriftsteller und Sympathisanten Himmlers. Er war halbseitig gelähmt, der linke Mundwinkel hing herunter und Speichel rann daran herab. Ergraut und zerbrechlich sah er aus. Doch nach dem, was Richard in den Tagebüchern gelesen hatte, begann er ihn in einem neuen Licht zu sehen. Als jemanden, der sein Leben lang unter einer Bürde gelitten hatte. Weil er über Vergangenes nicht hatte sprechen dürfen, so sehr er es auch gewollt hätte. Da lag ein Mann, der einen inneren Kampf gekämpft hatte, wie Richard es selbst vielleicht nie fertigbringen würde.
Der Vater registrierte die Ankunft seines Sohnes. Er drehte den Kopf und sah ihn an. Das Feuer, das Schneider bei seinem letzten Besuch in den Augen bemerkt hatte, loderte wieder auf. Richard indes saß nur da und schaute ihn an, ihn, der sich am Ende seines Weges befand und seinen letzten Eintrag ins Tagebuch des Lebens machte. Der Alte schwieg, doch sein Blick sprach Bände. Es schien, als wolle er sagen: Es tut mir leid. Ich habe dich schlecht behandelt. Ich habe dich ignoriert, weil du mit einer Frau gezeugt wurdest, die ich nicht geliebt habe. Es tut mir leid, Sohn. Jedenfalls hoffte Richard, in diesem Blick diese Worte lesen zu können und sehnte sich seinerseits danach, etwas wie Annahme und Respekt zu seinem kranken Vater durchdringen zu lassen.
Für Minuten sprach Richard kein Wort, und es war, als erkläre er sich solidarisch mit seinem stummen Vater. Der Alte röchelte beim Ein- und Ausatmen, und zwei kleine Schläuche leiteten Sauerstoff in seine Nase. Plötzlich bäumte er sich auf. Er wollte seinem Sohn etwas mitteilen, doch es dauerte lange, bis Richard die fast unverständlichen Worte seines Vaters erfasste. »Richard, die Bruderschaft. Sie werden zu dir kommen. Versteck die Bücher.«
Der Kopf des Alten fiel auf die Kissen zurück, so sehr hatten ihn diese Worte angestrengt.
Richard wurde es eng in der Brust. Er hätte mit allen möglichen Worten gerechnet, aber nicht mit einer solchen Botschaft. »Welche Bruderschaft, Vater? Wovon redest du? Was wollen die von mir?«
»Sie wollen die Lanze«, krächzte er. »Du bist der Nachfolger. Sie wollen endlich die Lanze an sich bringen und mit ihr die Macht.« Es kostete ihn fast alle ihm noch verbliebene Kraft, diese Worte hervorzubringen – erschöpft schloss er die Augen.
Dr. Schneiders Stirn war trotz der 21 Grad, die auf der Intensivstation herrschten, klatschnass. »Wer um Himmels willen sind »DIE?« Doch sein Vater konnte nicht mehr antworten.
Schneider war bestimmt kein ängstlicher Mann, doch die Dringlichkeit, mit der sein Vater die Worte gesprochen hatte, versetzte ihn in Aufruhr. Er wollte den Alten packen, ihn schütteln und weitere Worte aus ihm herauszerren. Doch es gelang nicht. Der Vater war zwar nicht tot, aber es fehlte nicht mehr viel. Eine rote Lampe über seinem Bett begann zu leuchten und ein schriller Piepton rief den Arzt und zwei Schwestern ins Zimmer.
Brüsk drückte Dr. Bergau Richard zur Seite, als wollte er ihn wortlos fragen, was ihm einfiele, seinen Vater von der Klippe zu stürzen. Geschwind nahmen sie die kleinen Sauerstoffschläuche aus den Nasenlöchern und drückten ihm eine große Maske aufs Gesicht. Bergau injizierte eine Flüssigkeit in die Braunüle auf der knochigen Handoberfläche.
Schneider sah sich die Szene eine Weile an und verließ verstört das Krankenzimmer.
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