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Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe

Titel: Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg S. Gustmann
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verhätschelt und verwöhnt. Für sie war er ein Wunschkind, für seinen Vater das Ergebnis des Verkehrs mit seiner Frau.
    Es schien, als lebte der Vater stets in seiner eigenen Welt. Er verbrachte Stunden damit, aus dem Fenster zu schauen, seine Gedanken schweifen zu lassen – und niemand wusste, was in ihm vorging. Wenn er nicht aus dem Fenster sah, las er. Stunden um Stunden konnte er ohne Unterbrechung lesen und nun, viele Jahre später, begann Richard allmählich zu begreifen, wieso Bücher im Leben seines Vaters eine so große Rolle gespielt hatten. Seine Tätigkeit bei der Post verrichtete er mit der Präzision eines Uhrwerks. Erst zwanzig Jahre als Schalterbeamte und danach zehn Jahre bei der Sortierung der ein- und ausgehenden Paket- und Briefsendungen. Nach seiner Pensionierung begann er, Briefmarken zu sammeln.
    Postbeamter! Er sammelte ausschließlich alte Marken aus fernen Ländern, alle aus der Zeit zwischen 1933 und 1945. Das Wesen seines Vaters zu begreifen, war Richard nie gelungen, da es voller Widersprüche zu sein schien. Dieser sture Beamte begehrte in seinem Leben nie auf, ging seiner Arbeit mit einer stoischen Gleichförmigkeit nach und ließ den Dingen ihren Lauf, als hätte der Mensch gefälligst keine Träume zu haben. Er fluchte nur selten – und fuhr eben ab und zu in einem Anfall cholerischer Gefühlregung aus der Haut und ließ seinen Unmut an seinem Sohn aus. Doch nie hatten die Gemütsregungen ein erkennbares Muster, aus dem man hätte lernen können, um sich die Prügel zu ersparen. Es war, als hielte eine unsichtbare Macht den Vater in Schach, die ihm verboten hatte, sich zu freuen und zu lachen.
    Für Richard war sein Vater der Inbegriff des langweiligen, ja fast lebendig toten Spießers. Doch nachdem, was er in den Tagebüchern gelesen hatte, begann sich allmählich das bestehende Bild von seinem Vater zu verändern.
    Die Auffahrt zum Krankenhaus riss ihn aus seinen Gedanken, und er wurde sich aufs Neue bewusst, wie abgrundtief er Krankenhäuser hasste. Sie waren Orte der Schwachheit, hier verlor man die Kontrolle, die Selbstbestimmung und im schlimmsten Fall das Leben.
    Als Richard die Intensivstation betrat, befand sich Dr. Bergau im Schwesternzimmer und gab letzte Anweisungen für die Versorgung der Patienten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er Richard, der ja schon in die Zeremonie der anzustrebenden Sterilität eingewiesen war und allein durch die Schleuse treten wollte.
    »Herr Schneider, warten Sie. Gut, dass ich Sie treffe«, rief Dr. Bergau, während er Schneider hinterherlief.
    Richard drehte sich um und verharrte, bis der Arzt ihn erreichte.
    »Herr Schneider, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es Ihrem Vater heute noch schlechter geht.« Der Arzt deutete mit einem Kopfnicken auf das Waschzeug und den Pyjama. »Die Sachen wird er zunächst nicht selbstständig benutzen können. Trotzdem danke, dass Sie sie gebracht haben.«
    Für einen Augenblick stand Schneider ratlos im Zugangsbereich der Intensivstation. Er sah hilflos an dem Arzt vorbei. Nach einer kleinen Pause fuhr Bergau fort. »Ihr Vater hat in der letzten Nacht einen zweiten Schlaganfall erlitten. Wir müssen davon ausgehen, dass er halbseitig gelähmt bleiben wird – sollte er überleben. Außerdem bringt er mühsam wenige Worte hervor, die kaum verständlich sind, aber das ist Ihnen ja schon bekannt. Ich möchte Sie bitten, ihn auf keinen Fall zu beunruhigen. Wenn sein Blutdruck durch Aufregung in die Höhe getrieben wird, könnte das sein Ende sein.«
    Richard sah den Arzt mit ausdrucksloser Miene an. Der ergänzte: »Seien sie nett zu ihm, erzählen sie ihm etwas Belangloses, aber vermeiden sie alles, was ihn aufregen könnte.«
    Schneider schluckte und fühlte sich unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. Ihm nichts erzählen, was ihn aufregen könnte. Genau das würde er tun, wenn er die Tagebücher erwähnte.

VI
    Professor Smith nahm die Brille ab und putzte die Gläser mit dem Zipfel seines durchgeschwitzten Hemdes. In früheren Jahren wäre er mit gleichgesinnten Wissenschaftlern sofort zu den Fundstücken gerannt, und es wäre ihm egal gewesen, welche Zeit die Uhr angezeigt hätte. Er hätte sich darauf gefreut, Neues zu entdecken. Doch er war nicht mehr der Jüngste und fühlte sich an diesem Tag zu müde und ausgelaugt für übereilte Aktionen.
    Er sah Lea an und bemerkte ihren erwartungsvollen Blick. »Ich weiß, dass Sie es nicht abwarten können, mir die Skelette zu zeigen, aber in den USA ist es

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