Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
und damit auch den ärmeren Männern aus der Bevölkerung. Der Sold wurde erhöht und die Ausrüstung standardisiert. Sie bestand in der Zeit für den einfachen römischen Infanteristen aus einem keltischen Kettenpanzer, einem Bronzehelm, einem spanischen Schwert, einem ovalen, hohen Schild und – und darum erzähle ich ihnen das alles – einer schweren Lanze, die man Pillum nannte.«
Lea hörte aufmerksam zu und Smith sprach begeistert weiter. »Die ranghöheren Offiziere trugen weiterhin Muskelpanzer nach griechischem Vorbild, versilberte Beinschienen und etruskisch-korinthische Helme mit Federn oder einem Rosshaarbusch darauf. Nun kommt jedoch die Zeit, die für uns wichtig ist.« Smith versicherte sich nochmals der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Zuhörerin und setzte seine Ausführungen fort. »Gegen Ende der Regierungszeit von Tiberius wird der Kettenpanzer durch den Schienenpanzer ersetzt. Das war schon deswegen wichtig, weil der Kettenpanzer vor Pfeilen und Speeren den Soldaten keinen besonders guten Schutz geboten hatte. Außerdem war der Schienenpanzer bedeutend preiswerter herzustellen. Der Montefortino-Helm wich dem kaiserlich-gallischen Helm und auch die übrige Ausrüstung inklusive des Pillums erfuhr einige Veränderungen.«
Der Professor ging um den Tisch herum, gesellte sich zu dem Toten Nr.3 und holte zu einer weiteren Tirade universitärer Belehrung aus. »Und deshalb, meine Liebe, kommen wir zu dem entscheidenden Schluss, dass dieser Tote vermutlich von einer Lanze getötet worden ist, die nach dem Jahr 27 nach Christus hergestellt wurde!«
Dem letzten Satz gab Smith ein besonderes Gewicht, indem er jedes Wort langsam und übertrieben deutlich aussprach. »Gibt es hier etwas zum Schreiben?« Lea führte ihn in den Nebenraum und reichte ihm ein großes Blatt Papier und verschiedene Stifte. Fingerfertig skizzierte der Professor zwei verschiedene Lanzen und zwei Menschen nebeneinander. Dann stützte er sich auf die Schreibtischplatte. »Wenn ein Mann an einem Hochkreuz hinge, würde der Lanzenstich von schräg unten in den Körper eindringen, in etwa so.« Smith zeichnete die Linienführung eines imaginären Lanzenstiches nach. »Wird der Stich jedoch frontal und in etwa gleicher Höhe durchgeführt, finden wir die Verletzung so vor.« Mit einem roten Stift zeichnete er den Verlauf einer weiteren Stichverletzung ein. »Im Prinzip scheint unser Tote Nr.3 auf genau diese Weise umgekommen zu sein, doch nun sehen Sie sich den Unterschied der zwei Lanzen an. Diese hier stammt aus der Zeit vor 27 und weist ein sehr prägnantes Profil auf. Unser Toter hat jedoch an den beiden betreffenden Rippen ein anderes Verletzungsprofil, wie es die Lanze erbrachte, die die Legionäre nach 27, also während der Amtszeit von Kaiser Tiberius mit sich führten.«
Leas Gesichtsausdruck zeigte jetzt aufrichtige Bewunderung für den Professor. Smith wurde nachdenklich, als suchte er in seinem Gedächtnis nach etwas weit Zurückliegendem. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Wir haben damals zweifelsfrei das Alter des Skeletts, bei dem wir dasselbe Relief an zwei tiefer liegenden Rippen gefunden hatten, mithilfe der Radiokarbontechnik auf das Jahr 29 datieren können.« Der Professor deutete auf die menschlichen Überreste auf den Tischen. »Die Analysen stehen in unserem Fall natürlich noch aus, aber wenn meine Vermutungen wahr sein sollten, dann stammen diese Funde tatsächlich aus der Zeit um die Zeitenwende.«
Lea stemmte ihre Hände in die Seiten und schüttelte den Kopf. »Es gibt nur einen Haken bei der ganzen Sache. Ich wollte es Ihnen die ganze Zeit schon sagen. Dieser Mann hier kann definitiv nicht aus der Zeit Jesu stammen.« Smith blickte überrascht in Leas Gesicht. Eine solche Aussage bedeutete entweder mangelndes Fachwissen, Arroganz oder Impertinenz. In der folgenden Minute sollte er erfahren, dass keiner dieser Beweggründe zutraf.
***
Dr. Bergau hatte in seinem Berufsleben vielen Angehörigen unangenehme Nachrichten überbringen müssen und war kaum noch über eine Reaktion erstaunt. Schneider indes verzog nicht eine Miene und reagierte so schleppend, als käme ihm die Bedeutung des Gesagten nur tröpfchenweise ins Bewusstsein. Eigentlich hatte Schneider beabsichtigt, seinen Vater wegen der Tagebücher zu befragen. Zumindest wollte er ihm gern von dem Stolz und der Bewunderung erzählen, die er nach dem Lesen des ersten Tagebuches für ihn empfunden hatte. Und jetzt ?, dachte er. Kein Wort davon
Weitere Kostenlose Bücher