Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
erst zu Bett gegangen, als um sieben Uhr der Wecker schellte. Sogleich war er hellwach, die Gedanken an die Tagebücher waren sofort präsent und stärker als jede Müdigkeit. Schneider eilte unter die Dusche, ließ das Rasieren aber aus. Er dachte an Blome und war in diesem Augenblick froh, dass er ihn hatte. Die Firma erschien ihm weit weg, und das, obwohl ihm nach diesem Comequad-Crash das Wasser bis zum Hals stand.
Das Frühstücksbrot schlang er hinunter, und der Kaffee verbrühte fast seinen Gaumen. All das war ihm gleichgültig. Er nahm den Autoschlüssel vom Brett und ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen.
Der morgendliche Verkehr in Frankfurt war eine Katastrophe. Die Hälfte aller vor ihm schleichenden Wagen hatte kein Frankfurter Kennzeichen, und ihre Fahrer kamen nur in die Stadt, um in irgendeinem der zahlreichen Hochhäuser ihr Geld zu verdienen, Software zu entwickeln, Kredite auszuhandeln oder Börsenkurse zu beobachten und im richtigen Moment zuzuschlagen. Das wäre normalerweise auch sein Job, heute jedoch überließ er die Arbeit seinen Leuten.
Er fuhr die Auffahrt zum Haus seiner Kindheit hinauf, und ihn befiehl erneut die Beklemmung, die er am Abend zuvor empfunden hatte. Er drehte den Schlüssel im Schloss herum und trat ein, zog die Regenjacke aus, warf sie achtlos auf die Stufen der Treppe und ging sofort zu der Tür, die ihn viele Jahre von dem Geheimnis getrennt hatte, das sich ihm nun nach und nach erschloss. Was hätte er darum gegeben, als pubertierender, neugieriger und geltungssüchtiger Junge einen solchen Fund gemacht zu haben, mit dem er vor der Klasse hätte prahlen können? Obgleich es wegen der sogenannten Entnazifizierung fraglich gewesen wäre, ob er damit hätte prahlen können oder sich eher hätte zurückhalten müssen.
Im Keller fand er alles vor, wie er es am Vorabend verlassen hatte. Heute drang das Tageslicht bis in den Kellerbereich vor, sodass die Glühbirne an der Decke nicht die ganze Arbeit allein verrichten musste. Da stand sie, die Kiste. Und er betrachtete sie noch einmal ganz genau – ohne Eile, mit viel Genuss. Sie musste um vieles älter sein als die Tagebücher, die Nägel waren aus Holz und nicht aus Metall, und die Eisenverschläge waren kunstvoll verziert. Sie dienten nicht einfach nur dazu, die Bretter zusammenzuhalten, sondern waren eine Augenweide für jeden Kenner der Schmiedekunst. Knarrend öffnete sich der Deckel der Truhe, und Richard bemerkte erstmals den feinen, beigefarbenen Stoff, der sie im Inneren auskleidete.
Vorsichtig räumte er die Tagebücher heraus, sortierte sie nach Jahreszahlen und stapelte sie behutsam auf dem Boden neben der Truhe. Er entdeckte ein geheftetes Manuskript. Es verschlug ihm die Sprache, als er den Titel las:
Der Speer des Wikingers von Karl Wilhelm Schneider München .
Ehrfürchtig, als hielt er eine heilige Schrift in den Händen, blätterte er die ersten Seiten um. 280 Seiten mit der Schreibmaschine getippt, ohne den kleinsten Fehler. Das große »G« und das kleine »a« waren ein wenig undeutlich. Es muss eine alte Maschine gewesen sein.
Schneider nahm soviele Bücher, wie er tragen konnte, und verließ den Keller. Plötzlich fiel ihm ein, was er am Vortag völlig vergessen hatte – das Waschzeug für seinen Vater. Er eilte die Treppe hinauf ins Bad und schaute sich um. Er fand alles, was der Arzt ihm aufgetragen hatte. Dann ging er ins Schlafzimmer und suchte im Schrank einen Pyjama. Es roch in diesem Raum eigentümlich, und der Geruch erinnerte ihn an früher, als er bei heftigen Gewittern zum Vater ins Bett geflohen war. Zumindest dachte er damals, dass es ihm gelingen könne, vor etwas zu fliehen.
Als Richard vierzehn und die Mutter an Krebs gestorben war, hatte er sich von Zeit zu Zeit auch in das Bett seiner Mutter gelegt. Er hatte selbst nicht genau gewusst, was er dort wollte. Vielleicht war es der Versuch, der schrecklichen Wahrheit ihres Verlustes zu entfliehen. Richard verscheuchte die Gedanken an seine Jugend, nahm die Kulturtasche und den Pyjama und ging die Treppe hinunter. Er stapelte ungelenk die Tagebücher auf dem linken Arm und verließ das Haus. Mit einem kräftigen Fußtritt schnappte die Haustür ins Schloss.
Schneider hatte schon lange nicht mehr über seine Kindheit nachgedacht. Aber jetzt verbrachte er die Minuten auf dem Weg ins Krankenhaus mit den Erinnerungen an jene Zeit, als seine Mutter noch lebte. Er war als Einzelkind aufgewachsen und wurde von ihr
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