Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
meinen Freund Raphael aus München denken. Ich kann und will nicht behaupten, dass er dieser Definition auch nur im Geringsten entsprach. Im Gegenteil, Raphael war ein liebenswerter, zuvorkommender jüdischer Junge mit edler Gesinnung, die man unter den anderen Jungs mühsam suchen musste. Während Himmler sprach, erstarrte er immer wieder, so, als zitiere er Worte, die nicht seine eigenen waren. Sein Blick wurde starr, und sogar seine Stimme wurde eine andere – härter und metallischer, fernab jeder Sanftheit, die ich sonst von ihm gewohnt bin. Ich frage mich, was diesen Mann dazu treibt, jene bedauernswerten Menschen derart zu verfolgen. Was haben sie ihm angetan? Was besitzen sie, was er nicht hat?
Danach stand er auf, ging zum Bücherregal und nahm ein dickes Werk hervor. Schon von Weitem bemerkte ich den gegenüber anderen Büchern helleren Umschlag. Er legte es in meine Hände und ich las auf dem Einband:
Adolf Hitler
Mein Kampf
Ich kenne dieses Buch natürlich, das Hitler während seiner Gefangenschaft geschrieben hat, doch was war das Besondere an diesem Exemplar?
Himmler sah mich eindringlich an: »Fühlen Sie dieses Leder, Schneider, wie weich es ist? Es ist nicht so grobkörnig wie Schweineleder.«
Er hielt es mir entgegen, ließ aber nicht los.
Ich strich darüber und sah ihn fragend an. »Rind?«
Er schüttelte grinsend den Kopf und hielt seine Antwort eine Weile zurück. Schließlich sagte er kurz: »Mensch!«
Schnell zog ich meine Hand zurück. Daraufhin ließ er das Buch behutsam, fast ehrfürchtig auf den Tisch gleiten. »Rückenhaut von Dachauer Häftlingen.«
Eine Welle der Übelkeit durchflutete mich, und es hätte nicht viel gefehlt, dass ich mich vor seine Füße erbrochen hätte. Dass ich es nicht getan habe, führe ich auf die beruhigende Wirkung des dauernden Teekonsums zurück. Himmler hingegen nahm das Buch mit einem unmenschlichen Leuchten in den Augen an sich und schob es feierlich ins Regal zurück. Hätte ich auch nur geahnt, was dann kommen würde, hätte ich das Haus sofort unter einem erdachten Vorwand verlassen. Er duzte mich plötzlich und sagte nur kurz: »Komm mit!«
Mechanisch und ohne die Kraft, nein zu sagen, erhob ich mich von meinem Stuhl und folgte ihm still wie ein Lamm. Wir gingen ins Foyer, stiegen die mit rotem Samt beschlagene Treppe empor und kamen in den obersten Stock. Vor der zweiten Tür auf der rechten Seite im Flur hielt er an, zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Sofort schwappte mir ein eigenartiger, ja fauliger Geruch in die Nase, ähnlich wie jener, der von Verwesung herrührt. Himmler griff zielsicher nach einem Lichtschalter zur Linken und brachte die Glühbirne an der Decke zum Brennen. Ich blickte mich im Raum langsam um, während ich ihm folgte. Ich fragte mich zunächst, was es in diesem Raum so Erstaunliches gebe, dass es unter Verschluss gehalten werden musste. Ich sah ein Holzregal mit scheinbar uralten schwarzen Büchern darin, merkwürdige Bilder mit sonderbaren, ziegenähnlichen Gestalten sowie einen Tisch mit einem Stuhl davor – das war alles, was ich in der Kürze der Zeit aufnehmen konnte, bevor er mir das zeigte, weswegen wir hierher gekommen waren.
Er zog den Stuhl vom Tisch ab und sagte kein Wort. Mit einem Kopfnicken gab er mir zu verstehen, dass es eben um diesen Stuhl ginge, doch eine starke Kraft in mir hielt mich davon ab, mich darauf zu setzen. Ich betrachtete den Stuhl eingehend und wurde nun gewahr, was das Absonderlichkeit dieser Sitzgelegenheit war: Die Stuhlbeine erwiesen sich, selbst ohne besondere Anatomiekenntnisse, als menschliche Beine auf menschlichen Füßen, und die Sitzfläche war ein menschliches Becken. Mir wurde schwindelig, und ich musste mich am Rahmen des Regals festhalten. Mir wurde schlecht, bevor ich die Eigenarten des Tisches näher betrachten konnte, vermutete aber, dass er aus demselben »Werkstoff« geschreinert war.
Im Augenwinkel bemerkte ich noch, wie Fr. Potthast hinter mir erschien. In ihren Augen das gleiche sonderbare Leuchten wie Himmler. Ich drehte mich um und rannte die Treppe hinunter zur Bibliothek, packte zügig meine Habseligkeiten zusammen, zog eilends meine Jacke an, verabschiedete mich so freundlich, wie es die Umstände zuließen, und flüchtete in die kalte, wohltuende Winterluft hinaus.
Ich begann zu laufen, stoppte abrupt und erbrach mich in eine blattlose Hecke. Ich kniete in dem kalten Schnee und kotzte mir die Abscheu aus dem Leib.
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