Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
diagonal zu lesen, um den Inhalt eines Dokumentes möglichst schnell zu erfassen. Doch jetzt war er bemüht, dass ihm nicht ein einziges Wort entging. Auch wenn hier ausschweifende Absätze über die Kriegsereignisse sich mit Passagen abwechselten, die sein Herz rasen ließen. Es waren Worte, die ihn gefangen nahmen, als hinge sein Leben davon ab.
Er griff sich den nächsten Band, betrachtete flüchtig den Einband: 10. Januar 1940 und las weiter.
10. Jan. 1940
Heute war einer der kältesten Tage, die ich überhaupt in Erinnerung habe. Draußen sind vierzehn Grad unter null, und ich friere seit Tagen in meiner kleinen Wohnung – so wie die Hälfte der Bevölkerung. Meine Finger sind steif, wenn ich an der Schreibmaschine sitzen muss, aber mit Handschuhen schaffe ich es nicht. Die meisten Büros, Fabriken und natürlich auch die Wohnungen sind vor allem deshalb kalt, weil es kaum noch Kohle gibt. Die Flüsse und Kanäle, auf denen bisher der Transport gesichert wurde, sind zugefroren. Trotzdem habe ich gestern Menschen auf den Straßen beobachtet, die in Kinderwagen oder auf ihren Schultern Säcke mit Kohlen nach Hause schleppten, um nur irgendwie heizen zu können.
Der Hass gegen das Weltjudentum nimmt von Tag zu Tag zu. Kaum wurde im Radio eine Sendung gebracht, die gegen die Juden hetzt, finden am nächsten Tag Übergriffe bewaffneter SS-Leute gegen sie statt. Mir scheint fast, es geht hier nur um einen politischen Krieg zur Erweiterung der Grenzen, sondern um einen ideologischen, wenn nicht sogar theologischen Kampf. Sind die Juden denn nur Menschen mit andersartigem Blut oder haben sie auch einen anderen Gott als unser Führer? An dieser Stelle fragt sich, welchen Gott unser Führer überhaupt anbetet?
30. Jan. 1940
Hitlers »Mein Kampf« wurde als Taschenbuch verlegt. Ist für die Truppen an der Front gedacht. Damit erreicht dieses Buch eine Gesamtauflage von sage und schreibe sechs Millionen.
10. März 1940
Heute ist Heldengedenktag. Traunstein brachte einen Artikel im Münchner »Völkischen Beobachter«, den ihm General von Rundstedt diktiert hat. Es heißt wörtlich: »Gewiss denken wir mit großem Ernst an die Toten, doch wir trauern nicht.« Quer über die Titelseite gedruckt steht: »VORWÄRTS ÜBER GRÄBER«. Ich frage mich, wie viel das Schicksal des Einzelnen noch wert ist.
Hitler hielt heute eine große Rede. Vor einer Kulisse aus europäischen Waffen und Geschützen aus allen Kriegen. Er überschlug sich mit Gesten, seine Worte klangen beinahe hysterisch im Angesicht dieser Museumstücke, und glühender Hass funkelte aus seinen Augen. Sie machen mir allmählich Angst, diese Augen. Zu welchen Taten ist dieser Mann fähig? Es stimmt, es ist unser Führer, doch wohin führt er uns eigentlich? Er versprach dem deutschen Volk den größten militärischen Erfolg der ganzen Geschichte. Doch wer denkt an militärischen Erfolg, wenn er friert und Hunger hat?
Noch etwas Wichtiges: Ribbentrop ist im Auftrag Hitlers nach Rom gereist, um sich mit dem Papst zu treffen. Bin gespannt, wie er sich aus der Affäre ziehen will, denn das letzte Konkordat des Papstes wurde von Hitler nicht eingehalten. Hoffe, dass Papst Pius XII. etwas für die baldige Beendigung des Krieges tun kann. Bin zwar kein Katholik, doch dieser Mann scheint weiterhin ein Freund des deutschen Volkes zu sein. Nur weiß ich nicht, ob er ausreichend gegen die für mich offensichtlichen Propagandalügen der Führung gefeit ist. Womit wird ihn Ribbentrop beeindrucken wollen? Gibt es etwas, für das der Papst empfänglich wäre, oder womit man sich seine Gunst erkaufen könnte? Nun, ich schätze, dass der Heilige Vater über solche Dinge erhaben ist.
11. März 1940
Es sind nun schon vier Monate vergangen, seit ich bei H. war, und ich bin dankbar und glücklich über die Distanz. Bin nach München gefahren. Brauchte mal wieder bayrische Luft. Als ich in der Redaktion auftauchte, nahm mich Herr Traunstein wie einen Sohn in die Arme, und auch Gudrun freute sich sichtlich, mich wiederzusehen. Bisher war es mir nicht gelungen, über die letzten Ereignisse zu reden, aber gottlob habe ich sie aufgeschrieben. Kein Mensch würde mir glauben, was ich dort in der Villa Himmlers erlebt habe.
Traunstein erzählte mir, dass Himmler schon dreimal angerufen habe. Er wolle demnächst nach München kommen, und ich solle mich für eine sehr interessante Angelegenheit bereithalten. Er habe mein Manuskript gelesen und sei begeistert gewesen.
Wieso nur freue
Weitere Kostenlose Bücher