Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
ich mich nicht über seine Begeisterung? Wenn ich an Berlin zurückdenke, erscheint mir alles so unwirklich – und hätte ich es nicht niedergeschrieben, würde ich es wahrscheinlich selbst nicht mehr für möglich halten. Es scheint, als läge über dieser schrecklichen Villa ein dunkler Schatten, und zwar nur über dieser Villa. Nicht über dem Nachbarhaus und nicht über dem angrenzenden Waldstück – nur über Himmlers Villa. Ein Nebel, der durch die Ritzen der Mauern kriecht, in jeden Winkel hinein, und durch die Räume zieht bis hinein in seine Seele.
Immer wenn das Telefon in der Redaktion klingelt – und das tut es oft –, zucke ich zusammen. Ich habe Traunstein gefragt, ob er mich nicht irgendwohin versetzen kann, wo Himmler mich nicht findet. Ja, ich bin mir nun darüber im Klaren: Ich will nicht wieder nach Berlin zurück. Nicht in Himmlers Haus und nicht in seine Nähe. Ich könnte zum Beispiel nach Rom fahren. Seit einem Jahr sitzt Papst Pius XII. nun auf dem Heiligen Stuhl, und ich hätte gern eine Audienz bei ihm. Ich frage mich, wie viel er von den Wirrungen in Deutschland mitbekommt, und ob er von den sogenannten Arbeitslagern weiß, in denen selbst kräftige Menschen innerhalb kurzer Zeit ums Leben kommen. Was geht hier in Deutschland vor? Viele jubeln dem Führer zu, andere lassen deprimiert und lethargisch alles über sich ergehen. Wieso bleibt Traunstein, Gudrun und mittlerweile auch mir so oft das Jubeln im Halse stecken? Begreift denn niemand, wessen Geistes Kind unser Führer ist?
Das Zimmer im Dachgeschoss von Himmlers Villa hat mir die Augen geöffnet und doch kann ich niemandem davon erzählen. Wieso nur habe ich den Eindruck, als übe Himmler eine eigenartige Macht über mich aus, gegen die ich mich nicht wehren kann?
VII
Lea schaute den Mann, der ihr Großvater hätte sein können, konzentriert an. Seine Barthaare kräuselten sich wirr um sein Kinn herum, und einige wenige auf der Wange schienen mehrfach beim Rasieren übersehen worden zu sein, denn sie streckten sich frech und lang hervor, als seien sie etwas Besonderes. Die Nase war bei genauem Hinsehen etwas krumm, und unter den buschigen Brauen fielen vor allem die Augen auf. Diese Augen waren anders als bei anderen Männern seines Alters. Sie funkelten lebendig wie bei einem Zwanzigjährigen und waren begierig, Neues zu entdecken. Smith war ein bedeutender Gelehrter, schrullig, wie andere seines Standes auch, doch seine Erscheinung und seine Ausstrahlung nötigten seinem Gegenüber Respekt ab.
Lea löste sich von ihren Bedenken und erläuterte dem Professor den Stand der Untersuchungen. Sie musste ihm jetzt den größten Widerspruch ihrer Funde präsentieren; und ihr war nicht ganz wohl dabei, eine Sache erklären zu müssen, die man eigentlich gar nicht erklären konnte. Zögerlich begann sie: »Also. Wir haben unsere radiologischen Untersuchungen noch nicht vollständig abgeschlossen. Es soll möglichst bald ein exaktes Computertomogramm vom Schädel des Toten Nr. 3 erfolgen.« Lea ging in Richtung des Schädels und erhob ihre Stimme ein wenig. »Aber schauen Sie sich doch bitte einmal die Zähne dieses Mannes an!«
Smith folgte ihr um den OP-Tisch herum. Eine sonderbare Unruhe erfasste ihn. Aufmerksam hörte er den Ausführungen Leas zu.
»Die Gebisse der anderen Beiden weisen für die damalige Zeit typische Abrasionsspuren auf. Sehen Sie hier! Diesem Mann fehlen bereits die Backenzähne, die anderen sind kariös verfault oder eben abradiert, also sehr stark abgekaut. Der andere hier weist einen noch schlimmeren Zahnbefund auf. Ihm fehlen sogar die Schneidezähne, und er hat nur noch verfaulte Wurzelreste im Seitenzahnbereich. Aber dieser hier«, Lea schritt erneut zu den Überresten des Mannes mit dem verkürzten Bein, »hat ein absolut perfektes Gebiss, völlig intakt und gepflegt. Ich meine, ich bin kein Zahnarzt, der kommt erst heute Nachmittag, aber schauen Sie sich einmal den unteren Backenzahn an. Das ist meiner Meinung nach ein …« Sie zögerte einen Moment. »… das ist ein Keramikinlay. Und dies hier sieht aus wie eine Vollkeramikkrone.«
Smith Gesichtsausdruck gab Lea deutlich zu verstehen, dass er sie zumindest in diesem Augenblick für verrückt hielt.
Doch sie fuhr unbeirrt fort: »Ich weiß, was Sie denken. Sie denken, ich spinne. Aber glauben Sie mir: Ich habe erst vor drei Wochen eine Rechnung von meinem Zahnarzt bekommen – für drei Keramikinlays und zwei Kronen.« Lea deutete mit ihrem Finger
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