Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Nie wieder werde ich dieses Haus betreten, schwor ich mir. Ich muss weg aus Berlin – egal, alles ist besser, als in diese Leichenhalle zurückzukehren.
Richard legte das Buch kurz auf den Tisch und schaute auf. »Oh mein Gott«, stieß er hervor. Er spürte, wie er fröstelte, und ließ sich dann aufs Neue in das Tagebuch hineinziehen.
3. Nov. 1939
Habe mich nach meinem Besuch bei Himmler wieder beruhigt. Alles erscheint so unwirklich, wie geträumt, seit ich wieder in München bin. Hier bekam ich zum Glück endlich neue Bezugsscheine für Textilien. Die Rationen sind so eng bemessen, dass ich mich frage, wie ganze Familien damit auskommen sollen. Für mich reicht es grad so.
9. Nov. 1939
Hitler ist in München. Er hat gestern Abend im Bürgerbräukeller eine flammende Rede gehalten. Bin durch Zufall daran vorbeigekommen und habe mich dank Presseausweis reingeschmuggelt . Hitlers Hände sind mir deutlich aufgefallen. Er benutzt sie wie ein Schauspieler. Er weiß genau, wie man sie einsetzen muss, um die Massen zu begeistern. Habe für einen Moment vergessen, dass ich ein unabhängiger Journalist sein will und mich in seinen Bann ziehen lassen. Hände und Worte, das sind seine Waffen.
Ich war jedoch zutiefst erschrocken und bin dabei wieder aus meinen Träumen aufgewacht, als er sagte, dass man sich auf einen langen Krieg einstellen müsse. Er rechne mit ungefähr fünf Jahren. Wie soll das deutsche Volk solche Entbehrungen fünf lange Jahre durchhalten?
Hitler war schon gegangen, und ich hielt mich noch in den hinteren Reihen auf, um die Reaktionen der Zuhörer aufzuschnappen, als plötzlich eine gewaltige Detonation den Raum erschütterte. Ein Attentat auf Hitler? Es scheint fast so. Die Tribüne, auf der Hitler gestanden hat, lag in Schutt und Asche. Ein absolutes Durcheinander. Die Leute schrien wild umher. Ich rannte hinaus. Es war nebelig draußen, und ich vermute, Hitler wollte so schnell wie möglich zurück nach Berlin fliegen. Es hat Tote gegeben und eine Unzahl Verletzte. Gut, dass ich so weit hinten gestanden habe, sonst hätte es mich auch erwischt. Teilweise wurden die Leute mit einem Bier in der Hand überrascht. Ich war erstaunt, dass der Rundfunk und die Zensoren dementierten. Wie kann das sein? Ich war doch dabei. Es ist tatsächlich passiert! Moment: Es muss ein Anschlag aus den eigenen Reihen gewesen sein, denn die Versammlung war nicht offiziell angekündigt worden.
18. Nov. 1939
Der deutsche Oberbefehlshaber Johannes Blaskowitz äußerte gegenüber Hitler größte Besorgnis wegen der vielen illegalen Erschießungen in Polen. Gerichtsverfahren gegen SS- Standartenführer wurden aber abgelehnt. Himmlers Macht wird durch solche Angriffe nicht erschüttert.
21. Nov. 1939
Reichsführer SS Himmler hat heute bekannt gegeben, dass der Mann, der ein Attentat auf Hitler verübt hat, gefunden wurde. Es war ein gewisser Georg Elser, 36 Jahre alt. Man sagt, er stünde mit dem britischen Geheimdienst und Otto Strasser, einem ehemaligen Nationalsozialisten, im Bunde, der jetzt als Gegner Hitlers in Frankreich lebt. Wir haben uns in der Redaktion angeschaut und mussten schmunzeln, denn eine solch abstruse Erklärung scheint einfach zu unglaubwürdig. Nun: Die Propaganda geht mittlerweile ziemlich seltsame Wege. Bin gespannt, wann der Prozess gegen Elser stattfindet. Möchte unbedingt dabei sein.
28. Dez. 1939
Bin wieder in Berlin. Die Radaktion braucht mich hier. Hatte schon lange kein so trostloses Weihnachtsfest mehr wie dieses Jahr. Ich habe gefroren, bekam nur eine schlichte Mahlzeit am Abend des Vierundzwanzigsten und konnte zu allem Übel vor Weihnachten Gudrun nicht mehr sehen.
Himmler hat die bereits erteilte Genehmigung für Cafés und Bars zurückgenommen. Nun dürfen die Lokale am Silvesterabend doch nicht bis zum nächsten Morgen geöffnet bleiben, sondern müssen um ein Uhr schließen. Außerdem hat er das Volk ermahnt, sich nicht dem unkontrollierten Alkoholgenuss hinzugeben.
31. Dez. 1939
Es sind viele Reden im Rundfunk zu hören. Göring spricht über den Krieg, als würde der nichts kosten außer Mut und Munition, dabei kostet er viele Menschenleben. Manchmal glaube ich, dass dieser Aspekt der Führung völlig gleichgültig ist, obwohl sie mit ihren Worten doch immer das Wohl des deutschen Volkes in den Vordergrund stellen. Ich frage mich, wie lange ich diese sonderbare Form der Propaganda, auch hier beim »Völkischen Beobachter«, mittragen kann.
Richard war gewohnt,
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