Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Zustand glich mehr und mehr dem eines verstörten Menschen, dem man sanft, aber zielgerichtet den Boden unter den Füßen wegzuziehen versuchte. Es war, als striche man die Wände eines Raumes, der vorher weiß oder zumindest grau war, nun schwarz. Das aber nicht mit einem Mal, sondern langsam und unauffällig. Jede Nacht wurde dem weißen Farbtopf etwas mehr schwarz hinzugefügt, bis nach dreißig Tagen die Wände endgültig schwarz waren und niemand mehr den Unterschied zu früheren Tagen bemerkte.
So erging es Schneider. Seine Gedanken kreisten nur noch um seinen Vater und dessen Erlebnisse. Jahrelang hatte er nichts von seinem alten Herrn gehört, und nun überrollte ihn eine Lawine väterlicher Erzählungen. Die Zeit schien aus den Fugen zu geraten, weil Wirklichkeit und Fantasie sich zusehends vermischten.
Nachdem Richard sich nun für einige Tage in seinem Haus verschanzt hatte, beschloss er, endlich im Krankenhaus anzurufen, um sich nach seinem Vater zu erkundigen. Er ließ sich mit Dr. Bergau verbinden, der sich offenbar sehr wunderte, dass er erst jetzt von Schneider hörte.
Ja, es ginge seinem Vater besser, sagte der Arzt. Sein Zustand habe sich stabilisiert, doch man wolle ihn vorsichtshalber noch auf der Intensivstation belassen.
Nach dem Anruf machte sich Schneider auf den Weg in seine Firma. Es war für ihn wie ein Auftauchen aus einer Unterwelt, und er bemühte sich, die gewohnte Routine aufkommen zu lassen. Es sollte jedoch ganz anders kommen.
Er öffnete die Tür zum Großraumbüro und ging durch die Vorhalle. Sofort hielten die Angestellten in ihren Gesprächen und Tätigkeiten inne. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, denn für sie, die sie Schneider schon seit Tagen nicht mehr gesehen hatten, war die Veränderung ihres Chefs deutlich sichtbar. Seine Krawatte hing schief, und der oberste Knopf seines Hemdes stand offen. Das Gesicht war fahl, die Wangen eingefallen und unrasiert, und seine Augen waren blutunterlaufen und trüb.
Blome drückte sich an den Mitarbeitern vorbei. »Was ist denn mir dir passiert? Geht es dir nicht gut?«
Er griff Schneider an der Schulter, als wolle er ihn wachrütteln.»Es ist wegen deines Vaters, habe ich recht? Hey, wir kriegen das hier schon in den Griff. Ruh dich aus und leg dich ins Bett. Ganz ehrlich. Du siehst furchtbar aus.«
Schneider ging das Mitleid auf die Nerven. »Kannst du mal für einen kleinen Moment deine Klappe halten?«
Blome verstummte augenblicklich.
»Kennst du dich mit Reliquien aus?«
Blome legte seinen Kopf schief und sah Schneider von der Seite an. Ist er jetzt völlig verrückt geworden ? »Nein, absolut nicht. Ich habe nichts mit Religion am Hut, das weißt du doch. Was soll das?«
»Ich brauche dringend Informationen über eine sogenannte Heilige Lanze . Die Lanze, mit der Jesus erstochen wurde oder so ähnlich.«
»Hör zu Richard. Ich weiß nicht, auf welchem Höllentrip du gerade bist, aber ich rate dir, schnell wieder runterzukommen. Wir haben hier in der Firma wahrlich andere Sorgen als eine ominöse uralte Lanze.«
»Gerd, es ist mir todernst. Ich will alles über eine Lanze oder einen Speer wissen, den angeblich ein gewisser Longinus besessen hat. Er hat damit Jesus in den Bauch gestochen und genau diese Lanze ist in den folgenden Jahrhunderten zu einem Instrument unglaublicher Macht geworden.«
»In Ordnung, Richard«, stöhnte Blome und wehrte gestikulierend ab. »Ich kümmere mich auch noch darum. Ich weiß zwar nicht, wieso dieses Ding für dich auf einmal so wichtig ist, aber ich werde Ralf mit der Recherche im Internet beauftragen.«
»Sehr gut. Ralf ist gut. Ist der nicht sogar katholisch? Ich glaube, er ist katholisch. Das ist gut.«
»Richard, bist du wirklich in Ordnung? Du klingst, als seiest du nicht mehr ganz in dieser Welt?«
»Nein, Karl. Es geht mir gut. Glaub mir. Es sind diese verfluchten Tagebücher, die mich ganz verrückt machen. Ein Leben lang habe ich meinen Vater für den Inbegriff eines spießigen Verlierers gehalten, und nun stelle ich nach fünfzig Jahren fest, dass er mal ganz nah am Zentrum der Macht war. Er war mit Himmler befreundet, stell dir das vor? Mit Heinrich Himmler, dem wichtigsten Mann neben Hitler.«
»Und was hat das mit dieser Lanze zu tun?«, fragte Blome mit geheucheltem Interesse.
Schneider rieb sich am Kinn. »Das weiß ich noch nicht genau. Ich habe das Gefühl, als sei ich einer ganz heißen Sache auf der Spur. Etwas, das uns in unserer Misere vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher