Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Überlieferungen Longinus geheißen haben soll, sei wie verwandelt fortgegangen, habe seine, mit dem Blut Jesu benetzten Hände betrachtet und die Lanze zu Boden fallen lassen. Und nun wurde er ganz theatralisch: Jeder, der danach diese Lanze in seinen Händen gehalten habe, sei mit einer übernatürlichen Macht ausgestattet worden: »So zumindest berichtet es die Legende.«
In der darauf folgenden Stunde ließ Himmler keine Sekunde aus, um über die Lanze des Longinus zu referieren. Er beschrieb sehr ausführlich den Weg der Lanze durch die Geschichte und betonte, dass schon Heinrich der I., dessen Reinkarnation er selbst sei, sie besessen habe. Man stelle sich vor. Himmler hält sich für den wiedererstandenen Heinrich I.
»Und wir«, fügte er schließlich mit großen Gesten hinzu und schlug dabei sogar mit der Faust auf den Tisch, »sind im Besitz eben dieser Lanze.«
Mir war natürlich bekannt, dass Hitler, als er Österreich annektierte, die Reichskleinodien an sich genommen hatte. Aber mir war nicht bewusst, wie viel Aufhebens dabei um diese Lanze gemacht worden war. Bereits am 12. März 39 waren Hitler und Heydrich in Wien gelandet. Die Exekutive und das Österreichische Bundesheer waren zu diesem Zeitpunkt schon von nationalsozialistischen Kräften durchsetzt gewesen, und das hieß vor allem: Gegner des Regimes wurden in sogenannte »Schutzhaft« genommen.
Die Führung der NSDAP in Österreich hatte sich den »Anschluss« so allerdings nicht vorgestellt. Eher hatte man eine Art Teilsouveränität im Sinn gehabt. Das euphorische Jubeln der Österreicher veranlasste den Führer aber, den kompletten Anschluss an das Deutsche Reich zu vollziehen. Gauleiter Bürckel wurde dann beauftragt, die »Abstimmung« am 20. April zu organisieren. Das Resultat: Über 99 Prozent stimmten für Hitler. Wie konnte es anders sein? Tausende politische Gegner waren unter tatkräftiger Beteiligung der österreichischen Exekutive bereits vorher verhaftet worden. Und als Hitler Wien wieder verließ, nahm er die Reichskleinodien mit sich.
Himmler fuhr fort, und er legte großes Gewicht in seine Worte: »Mein lieber Karl, diese Lanze aus Wien ist noch aus einem weiteren Grund bemerkenswert. In ihr ist ein Nagel eingearbeitet. Nicht irgendein Nagel, sondern der Nagel, mit dem Jesus am Kreuz angenagelt war.« Himmlers Augen leuchteten wie irre, und er war wohl fest davon überzeugt, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. Dann sagte er noch. »Begreifst du? Alles, was mit dem Blut Jesu in Berührung gekommen ist, besitzt unaussprechliche Macht. Das, mein Lieber, ist wahre Magie! Jeder, der diese Lanze besessen hat, verfügte über diese Macht. Sie rettet aus Bedrängnis, sie verhilft zu großem Wohlstand und Reichtum! Sie wendet dein Schicksal, wie schlimm es auch scheint, und sie bringt großen Segen über dein Leben! Sie ist der Retter in der Not … Und eines Tages … eines Tages werde ich sie besitzen.«
Himmler stand von seinem Stuhl auf, wischte sich den Mundwinkel ab und blickte in die Ferne. Seine Haltung wurde wieder starr, und seine Stimme bekam wieder diesen ungewöhnlich metallischen Klang als er sagte: »Wenn ich in Kürze die Menschheit führen werde, dann weißt du, wessen Macht in mir ruht, und du wirst verstehen, dass alles so kommen musste. Und deshalb …« Er drehte sich blitzartig zu mir um, stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch auf und blickte mir hypnotisch in die Augen, »… wirst du meine Biografie schreiben, Karl Wilhelm, und meinem Volk zugänglich machen! Hast du mich verstanden?«
Ich nickte nur stumm und spürte, wie mein Herz in der Brust raste. Da war es wieder, dieses Gefühl der Fremdherrschaft, gegen das ich nichts unternehmen konnte. Aber da war noch mehr, was mich in meinem Inneren ergriff: Mich interessierte diese Lanze. Sie stachelte meine Fantasie an, die ich so gern auslebe, wenn ich Bücher schreibe. Es ist schon eigenartig, wie sich die Dinge fügen. Ich fühlte mich plötzlich als Prophet, als Visionär. Der zweitmächtigste Mann im Land veredelt mein Manuskript in seinen Träumen und will es in die Wirklichkeit umsetzen. Ich muss gestehen, dass mich ein gewisser Stolz erfüllt. Vielleicht hat Himmler recht, wenn er sagt, dass wir vom selben Schlag sind. Vielleicht ist er doch nicht so ein verschrobener Kerl, wie ich noch vor einigen Monaten dachte.
Dr. Schneider spürte, dass sich etwas in seinem Leben veränderte. Die Lektüre dieser Tagebücher verwirrte ihn. Sein
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