Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
vierten und dem fünften Zahn von der Mitte aus gezählt lassen sich feine Übergänge der Keramikfüllungen zu der übrigen Zahnsubstanz sehen und ertasten.« Die Sonde kratzte so über die Zahnoberfläche, dass Smith eine Gänsehaut bekam. Gatziani fuhr fort: »Die drei Weisheitszähne wurden ihm wahrscheinlich schon entfernt oder sie liegen noch irgendwo im Kiefer verlagert. Auch das werden die Röntgenbilder offenbaren. Ungefähr hier müssten sie sich dann befinden.« Der Doktor zeigte mit der Sonde auf die Stelle hinter dem letzten Zahn, wo er die Weisheitszähne vermutete.
Smith unterbrach Gatziani. »Würden Sie sagen, dass dieser Mann eine moderne Zahnbehandlung gehabt hat? Genauer gesagt: Seit wann gibt es diese … diese Inlays?«
»Nun, Keramikinlays gibt es schon bestimmt zwölf, höchstens aber fünfzehn Jahre. Allerdings: Diese hier sind perfekt gemacht. Man sieht kaum Übergänge zum gesunden Zahn. Wenn Sie mich fragen, ist diese Arbeit höchstens drei Jahre alt. Außerdem ist so gut wie kein Zahnstein an den Zähnen zu sehen. Entweder hat der Mann die Zähne immer super gepflegt oder eine Zahnbehandlung und eine professionelle Zahnreinigung wurden erst vor Kurzem durchgeführt.«
Der Professor verstummte und schaute Lea an. Auch sie hatte nicht damit gerechnet, eine derart exakte Diagnose zu bekommen. Die Gedanken des Gelehrten kreisten um die eine, alles entscheidende Frage: Was hat ein Toter mit einem perfekt sanierten Gebiss aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert in einem 2000 Jahre alten Grab zu suchen. Jemand musste ihn erst kürzlich dort hineingelegt haben. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Doch warum? Und wer war dieser unbekannte Fremde? Es macht alles keinen Sinn.
***
Nachdem Schneider sich in der Küche etwas Essbares besorgt hatte, ging er ins Wohnzimmer zurück. Für ihn gab es nichts Wichtigeres mehr, als diese Bücher zu studieren. Gelegentlich trug er sich mit dem Gedanken, im Krankenhaus anzurufen, um zu fragen, wie es seinem Vater gehe, doch diese Aufzeichnungen besaßen eine magische Anziehungskraft. Die Bücher luden ihn ein, sich mit allen Sinnen in die Bedeutsamkeit der Geschichte zu vertiefen, Nachrichten aus erster Hand zu erfahren und überdies seinen Vater erstmals richtig kennenzulernen. Der eine Vater, der, den er kannte, lag auf der Intensivstation, vergreist, geschwächt und dem Tode nahe. Der andere Vater, der, den er gerade kennenlernte, erzählte von seinen Erlebnissen als junger Mann und war voller Tatendrang und Leben.
Richard nahm einen Schluck Bier und griff nach dem nächsten Band.
9. April 1940
Musste auf dringende Anweisung der Redaktion zurück nach Berlin. Deutsche Truppen sind ohne Kriegserklärung in Dänemark und Norwegen einmarschiert. Wie ich hörte, geht es in erster Linie um die Sicherstellung der Eisenerzlieferungen, ohne die ein Krieg nicht weitergehen könnte. Ribbentrop lässt offiziell verlauten, dass man diese Länder nur schützen wolle. Niemand spricht es laut aus, doch diese Aussage erscheint wie Hohn.
19. April 1940
Wir wurden von ganz oben angehalten, das deutsche Volk nicht länger mit beunruhigenden Gerüchten zu plagen. Nur die angenehmen und siegreichen Aspekte des Krieges gehören in den »Völkischen Beobachter«. Die ganze Berichterstattung ist mittlerweile in der Hand der Führung. Unsere Pressefreiheit ist dahin, zumindest drastisch beschnitten. Ein einziges Wort gegen das Regime, und man ist draußen. Kürzlich wurden zwei Redakteure für ihre angebliche Impertinenz sogar erschossen. Das muss man sich mal vorstellen!
Ich mache mir vor allem Sorgen um Traunstein. Wenn er so weiter macht, redet er sich noch um Kopf und Kragen. Ich frage mich, wie er das Leben seiner Familie derart aufs Spiel setzen kann. Courage hat er ja, das muss man ihm lassen. Trotzdem finde ich es dumm, so öffentlich seine Meinung zu sagen. Was man denkt, ist eine Sache. Was man sagt, eine andere. Ich bin lieber Diplomat und halte den Mund. Man muss ja alles nicht ausposaunen, was man weiß und denkt. Dennoch war ich heute erstaunt, dass ich am Vorabend des Geburtstags des Führers nur maximal fünfzig Leute vor der Reichskanzlei gesehen habe. Früher waren es mehrere Tausend.
10. Mai 1940
Die Deutschen sind bei Morgengrauen in Holland und Luxemburg einmarschiert. Die Maas wurde überquert und Maastricht eingenommen. Danach wurde Belgien betreten. Nach Hitlers Aussage wurden die neutralen Länder nur eingenommen, um denselben Schritt seitens
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