Hueter Der Macht
genossen, sei es als Adliger oder als Geistlicher! Ihr wisst nichts vom Elend, Thomas! Gar nichts!«
»Die Kirche…«
»Ist nur ein aufgeblasenes Instrument, mit dessen Hilfe die Sonderrechte des Adels aufrechterhalten werden, das Furcht und Schrecken verbreitet, um die Menschen ruhig zu halten. Verflucht sollt Ihr sein, Thomas. Ihr verteidigt eine Institution, die zu dem im Holzstaub knienden hungernden Zimmermann und seiner Frau sagt: ›Freut Euch, denn weil Ihr jetzt hungert, werdet Ihr vielleicht im nächsten Leben erlöst werden!‹«
Thomas kämpfte gegen seinen Zorn an und versuchte, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »Ich weiß, was Ihr seid, Marcel, und ich weiß, was Ihr vorhabt! Ihr und die Euren wollt Euch die Erde unterwerfen und Gott vernichten. Ihr…«
»Ob ich Gott vernichten will? Wenn er mir in die Quere kommt, ja. Wollen ich und die Meinen uns die Erde Untertan machen? Ja. Aber Tom, habt Ihr jemals darüber nachgedacht, wie wundervoll das Leben sein könnte, wenn wir Gott abschaffen und die Erde in Besitz nehmen? Wer sind die ›Dämonen‹, Priester, wenn Ihr und die Euren predigen, dass es besser sei, im Elend zu leben, als nach einem gerechteren Leben zustreben?«
»Ihr werdet scheitern«, sagte Thomas. »Es kann nicht anders sein. Die Rechtschaffenheit wird siegen, und die Menschheit wird das Böse zurückdrängen, von dem sie befallen ist.«
»Ihr tut mir leid«, sagte Marcel leise und ging zu einer Truhe an der Wand. Er hob den Deckel an und nahm ein zusammengerolltes Pergament heraus. Dann richtete er sich wieder auf und blickte Thomas an.
»Aber ja, Ihr habt recht«, sagte er. »Ich werde zweifellos scheitern, doch die Sache, für die ich eintrete? Redlichkeit und Gerechtigkeit? Ich glaube nicht.« Er ging zu einem Tisch hinüber und löste die Schnur, die das Pergament zusammenhielt.
Thomas lächelte, sein Gesicht wirkte kalt und selbstgerecht. »Philipp hat Euch verraten, nicht wahr?«
Marcel warf ihm einen Blick zu und rollte das Pergament dann mit einer raschen Handbewegung auf dem Tisch aus. Er tippte mit dem Finger darauf. »Schaut her!«
Thomas zögerte und ging schließlich zu ihm hinüber. Marcel hatte eine Karte von Paris und seiner unmittelbaren Umgebung entrollt, und sein Finger deutete auf einen Punkt jenseits der Ostmauer, am anderen Ufer der Seine, die an dieser Stelle in die Stadt floss.
»Vor drei Tagen hat der Dauphin mit einer Streitmacht hier sein Lager aufgeschlagen.«
Thomas blickte Marcel an und lächelte leise und wissend. Katherine hatte ihre Sache gut gemacht. »Wie groß?«
»Etwa fünfzehntausend – Ritter, Fußsoldaten und Bogenschützen.«
Thomas’ Lächeln wurde breiter, doch seine kalten Augen wurden dadurch nicht wärmer. »Philipp?«
Marcel sah ihn nicht an. Stattdessen fuhr er mit dem Finger zu einem Punkt jenseits der Westmauer von Paris, ein wenig südlich, an der Stelle, wo die Seine die Stadt auf ihrer Reise an die Küste wieder verließ.
»Und hier befindet sich der arme Marcel«, sagte Thomas leise und tippte auf die Stadt selbst. »In der Mitte gefangen.«
»Ich möchte Euch als Abgesandten zu Philipp schicken«, sagte Marcel. »Ihr kennt ihn von Kindesbeinen an, und er wird Euch Audienz gewähren.«
»Und was soll ich ihm sagen?«
Jetzt richtete sich Marcel auf und blickte Thomas in die Augen. »Ich möchte, dass Ihr ihn an unsere Vereinbarung erinnert. Er hilft dem Volk von Paris, gestattet uns, eine Volksvertretung zu bilden, mit der wir Einfluss auf die Regierung und die Steuern des Königreichs nehmen können, und wir helfen ihm, auf den Thron zu gelangen.«
»Ihr würdet den wahren König und seinen Erben vom Thron verdrängen?«
»Wenn es unserer Sache dient, ja.«
»Ihr rechtfertigt alles, jedes Elend, wenn es Euch einen Vorteil bringt, nicht wahr?«
»Wenn es dem Volk, in dessen Namen ich spreche, einen Vorteil bringt!«, sagte Marcel ruhig. »Werdet Ihr zu ihm gehen?«
»O ja«, sagte Thomas. »Ich werde gehen.«
»Gebt Ihr mir Euer Wort, dass Ihr ihm ausrichten werdet, was ich gerade gesagt habe?«
Thomas zögerte nur kurz. »Ja.«
Marcel nickte und sein Gesicht war müde und traurig, als er sich abwandte.
Nachdem Thomas gegangen war, nahm Marcel Tinte, Feder und Pergament zur Hand und schrieb hastig einen Brief:
Geliebte Dame und Schwester, ich grüße Euch. Dies wird, glaube ich, das letzte Mal sein, dass ich Euch schreiben kann. Die Ereignisse haben sich überschlagen. Der Mönch ist hier
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