Hueter Der Macht
Jahren klammerte sich an sie, der ebenso ängstlich wirkte wie seine Mutter.
»Was ist?«, fragte der Zimmermann, sein Blick zuckte zwischen Marcel und Thomas hin und her. »Ist meine Arbeit nicht gut gewesen?«
»Im Gegenteil, Raymond«, sagte Marcel, lächelte Raymonds Frau beruhigend zu und zauste dem Jungen das Haar, bevor er sich wieder dem Zimmermann zuwandte. »Wer kann an Eurer Arbeit wohl einen Makel finden!«
Raymonds Augen waren immer noch voller Furcht. »Warum ist er dann hier? Vielleicht habe ich bei den Schnitzereien auf den Bänken einen Fehler gemacht. Einen der Heiligen aus Versehen falsch dargestellt oder womöglich einen der Kirchenväter? Bruder«, Raymond ließ die Werkzeuge fallen und streckte Thomas die Hände entgegen, »es ist nicht mit Absicht geschehen. Ich wollte in meinen Schnitzereien keine ketzerischen Gedanken zum Ausdruck bringen! Ich…«
»Beruhigt Euch, Raymond«, sagte Marcel. »Bruder Thomas hat nur von der Präzision und Schönheit Eurer Arbeit gehört und wollte Euch dafür loben, nicht verdammen.«
Marcel drehte sich zu Thomas um und warf ihm einen entwaffnenden Blick zu. »Nicht wahr, Bruder?«
Thomas funkelte Marcel wütend an, doch er beherrschte sich, trat vor und betrachtete einige der Arbeiten, die bereits fertig waren.
Die Schnitzereien waren hervorragend, die Figuren und Darstellungen erwuchsen aus der Maserung des Holzes, fast als seien sie von Gott selbst erschaffen worden und nicht von der Hand eines Zimmermanns.
Aber entsprach das nicht auch der Wahrheit? Diese Schnitzereien waren tatsächlich das Werk Gottes, denn der Zimmermann war ja nur ein Werkzeug des größten Künstlers von allen.
Marcel verzog leicht den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Auf Geheiß des Erzbischofs hin arbeitet Raymond seit acht Monaten daran, das Chorgestühl von Notre-Dame auszubessern.«
Beim Klang von Marcels Stimme wandte sich Thomas von den Holzarbeiten ab und wieder dem Vorsteher zu. »Sein Werk ist wunderbar und wird sicher zu seinen guten Taten beitragen, sodass…«
»Sodass, wenn Raymond stirbt«, beendete Marcel den Satz für ihn, »und vor den Engeln des Jüngsten Gerichts erscheint, ihm die acht Monate, in denen er ausschließlich an diesen Schnitzereien gearbeitet hat, und das ohne Bezahlung, sicher zu seinem Vorteil gereichen werden. Natürlich hilft ihm das im Augenblick wenig, da er keine anderen Aufträge annehmen kann, mit denen er vielleicht sogar etwas Geld verdienen könnte, um seine Familie zu ernähren.«
»Ich beschwere mich nicht«, sagte Raymond ängstlich.
»Natürlich nicht«, sagte Marcel. »Ihr tut lediglich, was nach Ansicht der Kirche gut für Euer Seelenheil ist. In der Zwischenzeit würdet Ihr verhungern, wäre da nicht die Wohltätigkeit der Zimmermannsgilde, die Eurer Familie einen kleinen Betrag zahlt, um Euch über diese Zeit der Entbehrungen hinwegzuhelfen. Raymonds Not«, Marcel wandte sich mit hartem, kaltem Blick an Thomas, »kümmert den Erzbischof von Paris wenig, der bequem in seinem Palast lebt, mit seinen neunundsiebzig Dienern, seinem Goldgeschirr, den Juwelen an seinen Fingern und einem Schwarm blutjunger, verführerischer ›Hausbediensteter‹. Die Furcht vor dem Leben im Jenseits eignet sich wunderbar dazu, sich kostenloser Dienste im Diesseits zu versichern… nicht wahr, Thomas?«
Der Mönch antwortete nicht. Er war wütend, aber er würde Marcel nicht die Genugtuung geben, sich hier in dem ärmlichen Laden des Zimmermanns mit ihm zu streiten.
»Raymond«, sagte Marcel und neigte den Kopf vor dem Zimmermann. »Gisette. Ich wünsche Euch einen schönen Tag.«
Und damit ging er wieder auf die Straße hinaus.
Thomas folgte ihm, schlug die Tür hinter sich zu und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Marcels Faust packte Thomas’ Umhang am Revers und im nächsten Moment wurde er gegen die Tür gedrückt, während Marcels wütendes Gesicht nur eine Handbreit von dem seinen entfernt war.
»Ist das etwa gerecht, Priester? Ist das richtig? Glaubt Ihr, Eure Kirche hätte das Recht, von Raymond, Gisette und ihren Kindern zu verlangen, dass sie hungern sollen, damit ihre verfluchten Seelen irgendwann einmal erlöst werden? Und wenn es nicht gerade die Kirche ist, die für irgendeinen nebulösen Lohn im Himmel kostenlose Arbeit verlangt, dann fordern die Adligen oder der König oder irgendein selbstherrlicher Lehnsherr Steuern und Abgaben, die Elend und Hunger verursachen. Ach!«
Marcel wandte sich ab, Thomas zog seinen
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