Hueter Der Macht
auch nur ein Kind auf der Straße hungert, weil diejenigen, die uns beschützen sollen, uns im Stich gelassen haben!«
Thomas schwieg eine Zeitlang, bevor er antwortete. »Ihr seid unbesonnen«, sagte er schließlich.
»Ja. Ihr habt recht. Es sind mein ungestümes Wesen und die Sorge um meine Familie und Freunde, die mich so reden lassen. Verzeiht mir, Thomas, ich habe mich eben hinreißen lassen.«
Thomas nahm seine Entschuldigung mit einem Nicken zur Kenntnis, doch innerlich war er zutiefst erschüttert. Sie sprachen noch einige Minuten über Nebensächliches, bis Karle hereinkam und Marcel mitteilte, dass die Pferde bereit seien.
»Ich muss aufbrechen«, sagte Marcel, erhob sich und ging um den Tisch herum, um Thomas in die Arme zu schließen. »Vergesst nie, dass ich alles tun werde, um Euch zu helfen. Viel Glück, mein Freund. Geht mit Gott.«
»Ihr ebenso«, flüsterte Thomas, und dann waren Marcel und Karle verschwunden, und das Klappern von Pferdehufen auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes hallte in die Nacht hinaus.
In dieser Nacht hatte Thomas zum ersten Mal seit vielen Wochen ein Zimmer und ein Bett für sich allein, doch er fand keinen Schlaf. Er musste ständig an Marcel und seine Worte denken. Thomas war sich sicher, dass der Kaufmann ihm half, weil der Erzengel Michael ihn zu ihm geschickt hatte, denn wie sonst konnte er so viel wissen und Thomas’ Worte ohne weitere Erklärung hinnehmen? Und dennoch sorgte er sich um die Seele dieses Mannes. Er hatte so hitzig davon gesprochen, die von Gott auf Erden errichtete Ordnung zu stürzen. Thomas hatte Verständnis für Marcels Gefühle und seinen Schmerz angesichts der Leiden seines Volkes, doch es war die Pflicht eines jeden, so gut er konnte in der von Gott gewollten Ordnung zu leben.
Als Thomas schließlich doch in einen unruhigen Schlaf sank, träumte er von Kaufleuten, die Kronen trugen und Zepter in der Hand hielten.
Kapitel Vier
Das Fest des heiligen Swithin
Im einundfünfzigsten Jahr der Regentschaft Eduard III. (Donnerstag, 15. Juli 1378)
– I –
Nürnberg war eine der reichsten Handelsstädte Nordeuropas und rühmte sich mehrerer mächtiger Handels- und Kaufmannsgilden und Vereinigungen und einer Menge reicher Handwerksgilden. Die Gebäude der Stadt, besonders die Kathedrale und die Burg, waren prachtvoll, in den Straßen herrschte reges Treiben und fröhliches Stimmengewirr. Dennoch fand Thomas die Stadt bedrückend, vielleicht wegen des Nieselregens und kalten Windes, vielleicht auch, weil er Etienne Marcels Gesellschaft vermisste.
Er war an diesem Morgen früh aufgestanden und hatte eine Stunde oder mehr im Gebet verbracht, bevor die anderen sich von ihren Lagern erhoben und ihr Fasten mit einem eiligen Mahl gebrochen hatten, um noch vor der Morgendämmerung aufzubrechen.
Alle wollten so schnell wie möglich nach Nürnberg gelangen. Die Biermanns wegen der Reichtümer, die sie dort für sich – und Marcel – auf den Märkten zu gewinnen hofften; Marcoaldi, weil er sich endlich dessen entledigen konnte, was er in seinen Kisten so sorgsam bewacht hatte, und Thomas aus seinen eigenen Gründen. Die Schweizer und die deutschen Wachen, weil sie hier ihre endgültige Bezahlung erhalten würden und nach Hause zurückkehren oder eine neue Anstellung finden konnten.
Als sie sich im Inneren der Stadttore befanden, verabschiedete sich Thomas von seinen Reisegefährten. Er wusste, wo sich das Kloster befand, das nicht weit vom Marktplatz entfernt lag, auf den die anderen zusteuerten. Sie tauschten einige eilige Abschiedsworte, und Johann Biermann schien als Einziger den Verlust von Thomas’ Gesellschaft ehrlich zu bedauern.
»Nehmt Euch vor den Kobolden in Acht«, sagte Johann mit einem Grinsen.
Thomas zuckte leicht zusammen, bemerkte dann jedoch, dass Johann einen Scherz gemacht hatte und antwortete in gleicher Weise. »Und du halte deine Bewunderung für die Berge im Zaum«, sagte er, »sonst werden sie noch eines Tages dein Verhängnis sein.«
Den anderen nickte er nur zu, sagte ein paar höfliche Worte und wandte sich dann zum Gehen.
Trotz seiner bedrückten Stimmung verspürte Thomas eine große Erleichterung, als er wieder allein war.
Das dominikanische Kloster grenzte an die Ostmauer Nürnbergs – ein kleines Gebäude für eine solch reiche Stadt, und Thomas fragte sich, ob es sich von den Verwüstungen der Pest vor dreißig Jahren je wieder erholt hatte. Viele Gemeinden, ob nun der kirchlichen oder
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