Hüter der Macht
der Tuchmanufaktur die schmutzigste Arbeit, die sich finden ließ. Jedes Mal bedrückte ihn die Armut, auf die er in den schäbigen Wohnungen traf. Weber, die gut verdienten und Rücklagen hatten anlegen können, besaßen ihren eigenen Webstuhl. Wer jedoch einen mieten oder ihn in Raten abzahlen musste, der hatte oftmals nicht mehr genug zum Leben. Nicht selten waren es Witwen mit kleinen Kindern, die für sich allein sorgen mussten und die sich die acht Goldflorin für einen eigenen Webstuhl nicht leisten konnten. Immer wenn ihm diese Frauen die Piccioli einzeln in die Hand zählten und danach mit leerem Geldbeutel dastanden, schnürte es Sandro das Herz ab und er beeilte sich weiterzukommen.
Vier Namen hatte er von der Liste übernommen, und während er durch die armseligen Quartiere der Tessitori lief, ballte er die Fäuste ob der Hartherzigkeit seines Dienstherrn. Endlich lag sein letzter Besuch hinter ihm und er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass heute keiner auf der Liste einen Teil der Miete schuldig bleiben musste. Denn dann war Vieri unerbittlich und zwang die armen Weber, das bisschen Hab und Gut zu versetzen, das sie noch besaßen.
Seine gute Laune kehrte zurück und pfeifend machte er sich auf zur Kapelle von Santa Maria del Carmine. Hoffentlich hatte Tommaso das gleiche Glück wie er gehabt!
Kaum hatten sich Sandro und Tommaso bei ihrem Meister im Kontor zurückgemeldet und ihm das eingesammelte Geld ausgehändigt, hatte Vieri schon eine neue Aufgabe für Sandro.
»Du musst heute die Führung der Bücher übernehmen. Mein Bruder musste sich zu Bett begeben. Seine Schwindelanfälle machen ihm wieder zu schaffen. Auf seinem Pult findest du auch einen Stoß Rechnungsbelege von gestern, deren Summen noch ins Buch eingetragen werden müssen«, sagte er in unfreundlichem Ton.
»Sofort, Meister Vieri!« Sandro ließ sich nicht anmerken, dass er sehr genau wusste, was es mit den Schwindelanfällen von Giuliano di Armando in Wirklichkeit auf sich hatte. Das war kein Geheimnis in der Bottega. Vieris jüngerer Bruder war oft zu betrunken, um seiner Arbeit gewissenhaft nachgehen zu können. Man musste nicht nur mit Zahlen umgehen können, sondern auch eine saubere und akkurate Handschrift haben. Die Vorschriften der Florentiner Kaufmannschaft und der Regierung, die, um das Steueraufkommen einschätzen zu können, jährliche Prüfungen durch ihre Beamten vornehmen ließ, waren streng, was das Führen der Rechnungsbücher betraf. Alle Einnahmen, Ausgaben und Außenstände mussten in römischen Zahlen und in genau vorgegebenen Kolonnen sowie nach dem System der doppelten Buchführung eingetragen werden. Nirgendwo durften sich Schmierereien oder Korrekturen finden. Damit sollte sichergestellt werden, dass kein Kaufmann die Zahlen nachträglich änderte, um seine Steuerlast zu mindern.
Seit Vieri wusste, wie gut Sandro sich auf all das verstand, musste dieser immer wieder für seinen trunksüchtigen Bruder einspringen. Und Sandro tat das mit dem größten Vergnügen, zumal er dabei vieles über das finanzielle Geschäft einer Tuchmanufaktur lernte. Das konnte für sein Vorwärtskommen nur von Vorteil sein.
An diesem Nachmittag hatte er die Seitenstube des Kontors, wo die dicken Rechnungsbücher, die Kisten mit den abgelegten Belegen und Giulianos Schreibpult untergebracht waren, längere Zeit ganz für sich allein.
Er setzte sich ans Pult und schlug das Rechnungsbuch auf, das auf der ersten Seite die traditionelle Formel der Florentiner Kaufleute trug: A nome di Dìo e guadagnio – Im Namen Gottes und des Profits.
An diesem Tag fiel ihm beim Übertragen der Zahlen etwas auf, das ihn stutzig werden ließ. Gedankenverloren blätterte er sich durch das dicke Buch, das Vieri regelmäßig bei Cosimos Oberbuchhaltern in der Via Larga vorlegen musste, um es kontrollieren zu lassen. Wieder und wieder ging er die Zahlenkolonnen durch.
»Sieh an, obwohl Meister Vieri von der Familie Medici bestimmt gut bezahlt wird, scheint ihm nicht zu reichen, was er mit ehrlicher Arbeit verdient«, murmelte er vor sich hin, als er seinen Verdacht bestätigt fand.
Rasch griff er nach einem Stück Papier und machte sich Notizen. Dann faltete er den Zettel klein zusammen und ließ ihn in seiner Tasche verschwinden. Noch hatte er keine Idee, was er mit seinem Wissen anfangen sollte, aber er hegte keinen Zweifel, dass es ihm irgendwann einmal von Nutzen sein würde.
4
H errgott, pass gefälligst besser auf! Du sollst mich mit
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