Hüter der Macht
nordwestlichen Stadtrand entgegen. In der abendlichen Dunkelheit glich er einem dicken schwarzen Tintenstrich. »Ich hatte schon gedacht, du verkehrst nicht mehr mit gewöhnlichen Arbeitern aus einer Tuchbottega, wo du jetzt drüben am Mercato Nuovo an den grünen Tischen der feinen Bankherren sitzt.«
»Red doch nicht so einen Unsinn!«, erwiderte Sandro und revanchierte sich mit einem kräftigen Ellbogenstoß in die Seite seines Freundes. »Wir hocken den ganzen Tag hinten in der Schreibstube zwischen Bergen von Papieren, die wir zu ordnen und abzulegen haben.« Und an Matteo gewandt, der auf der anderen Seite von ihm ging, fuhr er fort: »Oder hast du dich vielleicht schon mal im Glanz eines großartigen Wechselgeschäftes sonnen dürfen?«
Matteo schüttelte den Kopf und murmelte schüchtern, dass er auf solch einen Tag wohl noch lange würde warten müssen.
»Da hörst du es«, sagte Sandro, während sie sich nach rechts in Richtung des Viertels Borgo San Frediano wandten, wo viele einfache Arbeiter wohnten. Tommaso führte sie zielstrebig durch ein Gewirr enger, dreckstarrender Gassen. Die schmalbrüstigen Häuser mit ihren grauen, oft rissigen Fassaden und den mit schmutzigen ölgetränkten Tüchern verhängten Fensteröffnungen ähnelten endlosen Reihen von Bienenwaben. Nur an wenigen Stellen brannte eine blakende Pechfackel, oder eine Laterne vor einem Tordurchgang warf ihren gnädig schwachen Schein auf die quer über die Gassen gespannten Leinen mit verschlissener, über Nacht zum Trocknen aufgehängter Wäsche – und auf die vielen Menschen, die zu dieser Abendstunde fröhlich lärmend unterwegs waren.
Tommaso grinste. »Na ja, solange ihr nicht in langen roten Umhängen daherstolziert kommt, will ich euch glauben, dass auch ihr euch euren Lohn hart erarbeiten müsst.«
»Willst du uns nicht endlich mal verraten, wohin wir gehen?«, fragte Sandro. »Das scheint mir ja ein recht finsteres Viertel zu sein, in das du uns führst.«
Tommaso lachte. »Hier gibt es einige der besten Schenken der Stadt. Die Leute, die hier in der Via dei Cardatori und der Via dei Tessitori leben, wissen eben, wo man für seine sauer verdienten Piccioli den besten Trebbiano vorgesetzt bekommt! Als Erstes gehen wir ins Cerca-Trova. Da ist immer eine Menge los.«
Es war der Abend des ersten November und in jedem Jahr wurde an diesem Tag in Florenz der neue Trebbiano mit einem großen Fest gefeiert, das die ganze Stadt in einen wahren Rausch versetzte. Und das wollte etwas bedeuten. Denn auf das Weintrinken verstanden sich alle Florentiner. Egal, ob Nonne oder Mönch, ob armer Tagelöhner oder reicher Kaufmann, sie alle sprachen nicht nur am ersten Novembertag, sondern das ganze Jahr hindurch eifrig dem Wein zu, insbesondere dem weißen. Ein Florentiner Chronist, der sich in jener Zeit einmal der Mühe unterzogen hatte, den durchschnittlichen Konsum von Wein pro erwachsenem Einwohner zu ermitteln, war dabei auf jährlich mindestens zweihundertfünfzig Liter pro Person gekommen.
Sandro war angenehm überrascht, als sie schließlich die Schenke betraten, in der es schon hoch herging. Der Wirt hatte für diesen Festtag zur Belustigung seiner Gäste mehrere Barden verpflichtet. Und die verstanden ihr Geschäft. Sie hatten eine bunte Mischung aus prächtigen Spottliedern auf die Reichen und Mächtigen der Stadt, aus schaurigen Moritaten und aus rührseligen Heiligenlegenden parat, aber sie trugen auch romantische Lieder über die Schönheit und die Verlockungen der Frauen vor.
Der erste Krug mit neuem Trebbiano war schnell geleert, und als auch der zweite schon zur Neige ging, hatte Matteo längst seine Scheu vor Tommaso abgelegt. Mit fröhlich erhitztem Gesicht nahm er an der Unterhaltung teil.
Auch wenn an diesem Abend ein Fest gefeiert wurde und die Stimmung ausgelassen war, kamen die jungen Leute nicht umhin, über die angespannte Lage der Stadt und den immer noch drohenden Kriegszug gegen Lucca zu sprechen. Denn so wie jeder Florentiner den Trebbiano liebte, so liebte er auch das politische Ränkespiel und ließ sich leidenschaftlich darüber aus. Und da sie alle drei bei den Medici in Brot und Arbeit standen, verstand es sich von selbst, dass sie auf der Seite dieser Familie standen.
»Was meint ihr, ob es wirklich zu einem Kriegszug kommt?«, fragte Sandro und füllte ihre Becher randvoll. Dieser Abend ging auf seine Rechnung und er wollte sich nicht lumpen lassen.
Matteo zuckte mit den Achseln. »Und wennschon? Was
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