Hüter der Macht
diese ihr Leiden für lange Zeit so wachhielt wie eine Wunde, die einfach nicht verheilen wollte. Erst nach zwei Wochen brachte sie den Mut auf und hatte genug innere Gefasstheit gewonnen, um Sandro bei der morgendlichen Sonntagsmesse unter die Augen zu treten.
Es waren für sie beide schwere Momente, dort vor der Kirche einander gegenüberzustehen, den Schmerz und das Verlangen im Gesicht des anderen zu sehen, ohne einander Trost spenden zu können.
Und so gingen sie bei ihrem ersten Wiedersehen schnell auseinander, sprachlos und wortlos angesichts der Macht der Gefühle.
Am folgenden Sonntagmorgen hatten sie sich schon besser unter Kontrolle, doch schwer blieb es dennoch.
»Wie geht es dir?«, fragte Tessa leise, als sie aufeinandertrafen.
»Musst du das wirklich fragen?« In Sandros Blick lag etwas, das Tessa zusammenzucken ließ.
»Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden.«
»Diese Wunde heilt sie nicht«, erwiderte er bitter, senkte den Kopf und ging davon.
Tessa fürchtete, sie würde am nächsten Sonntag vergeblich vor der Kirche auf ihn warten. Doch ihre Angst, er könnte fortan ihre Nähe meiden, weil er die Hoffnungslosigkeit nicht mehr ertrug, erwies sich zu ihrer Erleichterung als unbegründet. Denn ihn ganz aus ihrem Leben zu verlieren hätte sie nicht ertragen, das wusste sie.
Es dauerte jedoch bis in den späten Mai hinein, bis Sandro und Tessa sich endlich so weit gefangen und mit der ausweglosen Situation abgefunden hatten, dass sie wieder zu einem normalen Gespräch und schließlich auch wieder zu Scherzen und zu einem gelegentlichen Lachen fähig waren.
Im Mai nahm Matteo seine Ippolita zur Frau und zog mit ihr in eine Wohnung, die sich in einem Palazzo befand, der einst der adligen Familie Amieri gehört hatte. Ein reicher, geschäftstüchtiger Einwanderer aus Pisa namens Alessandro Borromei hatte dieses Gebäude aufgekauft, in viele eigenständige Einheiten unterteilt und vermietete die Räume im Erdgeschoss an Handwerker und Händler und die Zimmer in den oberen Stockwerken als Wohnungen. Diese Methode, alte Palazzi derart zu Mietshäusern umzufunktionieren, sollte schon bald eifrige Nachahmer finden, als bekannt wurde, wie unglaublich profitabel dieses Geschäft war. Es hieß, Borromei erzielte mit dem Palazzo einen jährlichen Mietzins von fast tausend Florin.
Matteo ließ sich seine Hochzeit einiges kosten. Tessa gehörte jedoch nicht zu den Gästen, obwohl auch sie eingeladen war. Selbst wenn Fiametta ihr die Erlaubnis gegeben hätte, an der Hochzeitsfeier teilzunehmen, hätte sie es nicht ertragen, an Sandros Seite Zeugin des strahlenden Glücks der beiden zu werden. So wünschte sie Matteo und Ippolita aus der Ferne alles nur denkbar Gute.
Als Tessa und Sandro sich zum letzten Mal vor der Kirche sahen, bevor die Medici und die Vasetti sich genau wie alle anderen reichen Familien aus Florenz für den Sommer auf ihre Landgüter zurückzogen, berichtete Sandro, dass er seine Lehrjahre in der Tavola am Mercato Nuovo nun bald beenden würde. Cosimo de’ Medici wolle ihm neue, verantwortungsvollere Aufgaben übertragen, jedoch nicht in der lokalen Wechselbank, sondern in seinem Palazzo in der Via Larga. In diesem Jahr würde er zum ersten Mal in das Gefolge aus Verwandten, Geschäftspartnern und gelehrten Freunden aufgenommen werden, mit dem Cosimo de’ Medici auf seinen Landsitz im Mugello reiste. Das war eine große Ehre, auf die er sehr stolz war.
Auch Tessa würde die Stadt verlassen. Das Familienlandgut der Vasetti, das sich Cosenza nannte, benannt nach der gleichnamigen Heimatstadt von Lionetto Vasettis Großmutter in Kalabrien, lag im Süden der Stadt.
»Die Zeit ohne dich wird mir furchtbar lang werden«, sagte Sandro und seine Stimme klang auf einmal wieder zaghaft und mutlos.
Tessa versuchte zu lächeln. »Der Herbst kommt wie im Flug, du wirst schon sehen«, sagte sie so leichthin wie möglich, obschon ihr ein Kloß in der Kehle saß.
Mit diesen Worten drehte sie sich um und eilte davon, um ihre Tränen zu verbergen, die brennend in ihre Augen stiegen.
Das eintönige Leben auf dem Landgut im Dienst der ewig nörgelnden und jammernden Fiametta wurde erst Ende August unterbrochen, als Tessas Herrin neue Hoffnung schöpfte, dass ihr Leben und ihre Ehe schon bald eine Wendung zum Besseren nehmen würden. Endlich war sie wieder in anderen Umständen.
»Diesmal wird es ganz bestimmt ein Sohn«, sagte sie immer wieder, als wollte sie dem Schicksal ihren Willen
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