Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
ein“, sagte er. Mehr nicht.
Muffige, abgestandene Luft schlug Emily entgegen, als sie zur Kutsche trat. Etwas misstrauisch betrachtete sie das Innere des Gefährtes, doch dann stieg sie ein. Kaum hatte sie die Tür hinter sich zugeschlagen, als die Kutsche sich auch schon rumpelnd und rüttelnd in Bewegung setzte.
Emily zog den Vorhang vor dem Fenster zurück und schaute hinaus. Eine Weile fuhren sie noch durch Wald, dann wurden die Abstände zwischen den Bäumen immer größer, und die Kutsche gelangte auf eine gepflasterte Straße. Gesäumt wurde diese von niederen, efeubewachsenen Mäuerchen. Mittlerweile war die Dämmerung endgültig in die Nacht übergegangen. Emily konnte nur noch erkennen, was direkt von den Straßenlampen beleuchtet wurde. Diese schimmerten in einem ungewohnten gelblichen Ton und flackerten immer wieder. Irgendwann begriff Emily, dass es Laternen mit Kerzen darin waren. Ziemlich altmodisch, dachte sie.
In diesem Moment schlingerte die Kutsche und wurde mit einem Ruck vorwärts gerissen, dann kam sie unsanft zum Stehen. Emilys Kopf schlug gegen das Fenster, und sie rieb sich benommen die Stirn. Draußen hetzte etwas zwischen den Regenfäden davon und verschwand zwischen den Hügeln in der Dunkelheit. Emily blinzelte. Sie presste das Gesicht ans Fenster, doch der Weg lag so verlassen da wie zuvor.
„Was war das?“, fragte sie atemlos.
Der Mann, der ihr noch immer reglos gegenüber saß, machte keine Anstalten, ihre Frage zu beantworten.
Emilys Herz raste, so sehr war sie erschrocken. Sie hätte geschworen, dass es ein Mensch mit einem roten Umhang auf einem Pferd gewesen war, den sie gesehen hatte. Beruhigend streichelte sie Amethyst, die sich fauchend unter die Sitze verzogen hatte.
„Schon gut, Amy, es ist weg“, flüsterte sie. Langsam normalisierte sich ihr Herzschlag wieder. Sie schob Amy in den Rucksack zurück.
Vor dem Fenster war mehr zu erkennen, denn die Laternen standen in dichteren Abständen nebeneinander. Eine davon beschien einen Wegweiser, der an einer Kreuzung stand. Emily erhaschte einen Blick auf die Ortschaftsnamen. Sieben-Drachen-Stadt stand dort, und auch Ringstadt konnte sie lesen. Von beiden hatte sie noch nie gehört. Ein weiterer Wegweiser war mit Arcanastra angeschrieben. Diese Richtung schlug die Kutsche ein.
Arcanastra, dachte Emily aufgeregt. Das war die Stadt aus den Geschichten ihrer Vorfahren, und sie war tatsächlich auf dem Weg dorthin!
Allmählich drangen sie tiefer in ein Moorgebiet hinein. Gespenstisch ragten ertrunkene Bäume in den verhangenen Himmel, und der Widerschein der Laternen glitzerte in Wasserlöchern. Vor der Kutsche erschien ein Licht, das immer heller wurde. Emily war ein bisschen unheimlich zumute. Erst der seltsame Reiter, der aus der Nacht aufgetaucht war, und jetzt dieses Licht im Moor…
Dann entdeckte sie, dass das Licht von einem winzigen Bahnhof kam. Das Backsteingebäude wurde von zahlreichen Laternen beschienen. Straßenbahn nach Arcanastra stand auf einem Schild, mit verschnörkelten Buchstaben geschrieben. Der gepflasterte Platz schien menschenleer, bis auf einen Jungen, der mit einem Koffer neben sich auf einer Bank saß. Gleich hinter dem Bahnhof standen einige Bäume. Schienen kamen zwischen ihnen hervor, liefen einmal rund um den gepflasterten Platz und dann wieder direkt auf die Bäume zu. Bereits nach wenigen Metern wurden sie von der Dunkelheit verschluckt.
Emily erschrak, als der Mann auf einmal verkündete:
„Endstation.“
Sie holte tief Luft, hängte sich den Rucksack über die Schulter, griff nach dem Koffer und stieg aus. Der Mann tippte sich zum Abschied an die Hutkrempe. Kaum hatte er die Tür der Kutsche zugezogen, als sie eins mit der Nacht wurde.
Der Junge auf der Bank schaute auf, als Emily näher kam. Nervös kaute sie auf ihrer Lippe herum.
„Noch eine, die in die Verbannung geschickt wird, was?“, sagte der Junge grinsend und fuhr sich durch die weißblonden Haare.
Emily nickte erleichtert. Der Junge klang glücklicherweise ganz nett.
„Fährst du auch zum ersten Mal nach Arcanastra?“, fragte sie und setzte sich neben ihn. Den Rucksack mit Amethyst hielt sie schützend umklammert. Die Katze regte sich nicht.
Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, ich lebe schon seit einigen Monaten dort. Aber eigentlich komme ich aus Sieben-Drachen-Stadt.“
Emily fiel ein, dass Sieben-Drachen-Stadt eine der Ortschaften auf dem Wegweiser gewesen war. Wie sahen die Städte hier wohl aus,
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