Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
ihr mindestens drei Mal gesagt, sie soll dich heute schlafen lassen.“
Emilys Vater wirbelte den Pfannkuchen durch die Luft und konnte ihn gerade noch mit der Pfanne auffangen, bevor er im Fressnapf der Katze landete.
„Die tut doch nie, was man ihr sagt“, brummte Emily. Amethyst war nun mal eine typische Katze, dickköpfig und eigensinnig. Abwesend blätterte Emily durch die Zeitung, bis ihr Vater einen Teller voll dampfender Pfannkuchen auf den Tisch stellte und bat:
„Sagst du deiner Mutter Bescheid, dass wir essen können?“
Bald darauf saß die kleine Familie am Tisch.
„Haben wir schon irgendwelche Pläne für die Herbstferien?“, fragte Emilys Vater, während er sich Kaffee nachschenkte.
„Nun ja...“, begann seine Frau. Emily und ihr Vater schauten sich an. Sie wussten beide, was jetzt kommen würde.
„Es gibt da ganz in der Nähe eine Burgruine, die wir uns noch nicht angeschaut haben. Mit dem Auto wären wir in sechs oder höchstens sieben Stunden dort“, erzählte Emilys Mutter.
„Sieben Stunden findest du kurz?“, fragte Emily. „Da könnten wir nicht mal am selben Tag wieder zurückfahren.“
„Das wäre doch eine gute Gelegenheit, um mal in einer Burg zu übernachten.“ Die Begeisterung ihrer Mutter war nicht zu bremsen. Nicht einmal durch die Tatsache, dass es bereits September war und die Nächte bald ziemlich kühl sein würden.
„Hast du ein Foto von der Ruine?“, fragte Emily misstrauisch.
„Sicher… Moment... es müsste hier irgendwo sein…“ Ihre Mutter wühlte in dem Stapel von Zeitschriften und Briefen auf dem Tisch. „Ach, da ist es ja.“
Stirnrunzelnd betrachtete Emily die Fotografie, die ihre Mutter ihr hingeschoben hatte. Was darauf zu sehen war, konnte man beim besten Willen nicht mal als Ruine bezeichnen. Steinhaufen traf es eher. Emily schüttelte den Kopf.
Olivia Rubinstern war Archäologin. Für sie gab es nichts Schöneres als uralte Münzen, Scherben, Pfeilspitzen oder Schwerter. Oft war sie monatelang nicht zu Hause, sondern an irgendeiner Grabungsstelle. Emily war deshalb mehr von ihrem Vater aufgezogen worden. Levin Rubinstern arbeitete als Lateinlehrer an einer nahen Schule. Obwohl er sich für das Mittelalter interessierte, sah auch er im Moment nicht überaus begeistert aus.
„Vielleicht können wir den Ausflug zu dieser Ruine noch ein wenig verschieben“, schlug er vorsichtig vor. „Bis zu den Weihnachtsferien.“
„Oder den Frühlingsferien“, murmelte Emily.
„Oder den Sommerferien nächstes Jahr...“
„Wie ihr wollt.“ Emilys Mutter betrachtete glücklich die Fotografie. „Seht ihr? Da war der Burggraben... und hier die Waffenkammer... dort die Ställe... man kann alles ganz deutlich erkennen.“
Emily biss in ihren Pfannkuchen und nickte, obwohl sie eigentlich überhaupt nichts erkennen konnte.
„Übrigens, Emily, kennst du das lateinische Wort für Ruine ?“, fragte der Vater.
„Ähm.“ Emily schluckte und stand hastig auf. „Ich glaube, ich habe vorhin den Postboten gehört.“
Wenn Levin Rubinstern mit Latein anfing, hörte er nämlich nicht so schnell wieder damit auf.
Als Emily die Haustür öffnete, blies ihr ein kalter Wind ins Gesicht. Der Herbst hatte in diesem Jahr früh eingesetzt. Amy streckte nur schnell die Schnauzhaare in Richtung des Eingangs und verzog sich dann wieder ins Warme. Den Schlafanzug enger um sich geschmiegt, lief Emily durch herumwirbelnde Blätter und Ästchen zum Briefkasten. Daran befestigt war ein Schildchen aus Messing mit der Inschrift:
Olivia und Levin Rubinstern mit Emily und Amethyst
Emily hatte darauf bestanden, den Namen ihrer Katze ebenfalls hinzuschreiben, auch wenn sie zugeben musste, dass sie noch nie Post gekriegt hatte. Immerhin gehörte Amy zur Familie.
Ein Päckchen lag im Briefkasten. Es war unordentlich in braunes Papier eingeschlagen und mit einer Schnur umwickelt. Außerdem befand sich ein Brief dort. Wie das Päckchen war er an Emilys Eltern adressiert. Als Absender stand Stiftung Charlotte Kaiser darauf. Auf einmal wurde es Emily eiskalt, und diesmal hatte es nichts mit dem herbstlichen Wind zu tun. Der Brief war von ihrer Schule. Emily wusste ganz genau, was darin stand, und in den nächsten drei Sekunden erinnerte sie sich an alles, was vor einigen Wochen passiert war...
Emily war im Korridor ihrer Schule auf einem Fensterbrett gesessen. Draußen prasselte der Regen auf Straßen und Dächer, und die Direktorin versuchte, ihn mit ihrer
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