Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
Mädchen, das mühsam seinen Koffer die Stufen hochschob und ihnen einen Blick zuwarf, ohne ein Wort zu sagen. Das Mädchen musste gerade erst angekommen sein.
„Du kannst dich ruhig zu uns setzen… wenn du willst“, sagte Finn zu dem Mädchen.
„Oh, schon gut“, murmelte es und wählte einen Platz, der weit von ihnen entfernt war. Es schlang die Arme um seinen Körper, wie um sich selbst festzuhalten.
„Ich kenne sie nicht“, erklärte Finn mit gesenkter Stimme.
Emily hatte erwartet, dass noch mehr Leute mitfahren würden, doch kurz darauf setzte sich die Bahn ruckelnd und schaukelnd in Bewegung, ohne dass weitere Fahrgäste eingestiegen wären. Eine Weile starrte Emily neugierig zu dem Mädchen hin, doch als es weiterhin nur wortlos dasaß, verlor sie das Interesse. Dafür fragte sie Finn:
„Warum sind die Fenster eigentlich schwarz bemalt?“
Finn verzog das Gesicht. „Das erfährst du besser erst später, glaub mir.“
Emily nickte verwirrt und versank in stummes Grübeln. Seit gestern war einfach zu viel passiert, worüber sie noch gar nicht richtig hatte nachdenken können. Immer deutlicher wurde ihr bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie erwartete.
„An deiner Stelle würde ich das nicht tun“, sagte Finn auf einmal. Emily schaute auf, doch er hatte nicht mit ihr gesprochen, sondern mit dem anderen Mädchen. Es kauerte auf seinem Sitz und kratzte mit dem Fingernagel die schwarze Farbe vom Fenster. Ohne Finn zu beachten, machte es immer weiter damit. Bereits war die Stelle mit abgekratzter Farbe ziemlich groß geworden.
„Hör mal“, sagte Finn jetzt etwas schärfer, „das ist wirklich keine gute Idee!“
„Warum denn nicht?“, fragte Emily.
„Irrlichter“, stieß Finn als Antwort zwischen den Zähnen hervor. Er stand auf und machte einen Schritt zum Mädchen hin, aber in diesem Moment schaukelte die Bahn heftig, und Finn fiel auf einen der Sitze. Fluchend rappelte er sich auf und untersuchte eine Schürfwunde an seinem Handgelenk.
„Mist“, knurrte er. Dann schauten er und Emily gleichzeitig zum Mädchen. Finn zog scharf die Luft ein.
„Oh nein“, murmelte er.
Durch die Stelle, die das Mädchen von der Farbe befreit hatte, fiel ein Lichtschimmer auf sein Gesicht. Es schaute mit seltsam starren Augen hinaus.
„Sieh nicht hin!“, rief Finn und stand rasch auf, doch das Mädchen war schneller. Wie in Trance stand es auf, öffnete die Wagentür und war im nächsten Augenblick verschwunden.
„Ruf die Wächter!“, schrie Finn und rannte dem Mädchen nach.
„W… wie?“, stotterte Emily.
„Die Kette dort! Zieh dran! Und steig auf keinen Fall aus!“, rief Finn. Dann sprang er aus dem Wagen und schlug die Tür hinter sich zu.
Mit offenem Mund schaute Emily ihm nach. Erst einige Sekunden später fiel ihr Finns Auftrag wieder ein, und sie blickte sich um. Nur einige Sitze von ihr entfernt baumelte eine Kette von der Decke, die sie vorher gar nicht bemerkt hatte. Emily zögerte kurz, dann ging sie hin und zog mit einem kräftigen Ruck daran.
Nichts geschah.
Nervös starrte Emily die Kette an. Schließlich zog sie erneut daran, wieder geschah nichts. Allerdings wusste Emily gar nicht, was überhaupt geschehen sollte . Sie hatte eine Glocke erwartet, die läutete, oder vielleicht einen Warnton, der losging. Zur Sicherheit zog sie ein drittes Mal an der Kette und hoffte, dass sie die Wächter nun tatsächlich gerufen hatte. Dann kehrte sie zu ihrem Platz zurück. Mit angezogenen Beinen machte sie sich so klein wie möglich und hielt den Rucksack mit Amethyst schützend umklammert.
Es war still.
Unheimlich still.
Die Laterne über Emilys Kopf schwankte und warf bedrohliche Schatten an die Wände. Die Kette, an der Emily gezogen hatte, schwang leise knirschend hin und her. Von draußen war nicht das winzigste Geräusch zu hören, wie angestrengt Emily auch lauschte. Ihr Magen fühlte sich an, als würde Amy darin wild umher hopsen. Ihr war übel, und sie kam sich schrecklich allein vor. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus und ging durch den Wagen, bis sie vor der Tür stand. Wieder lauschte sie.
Nichts.
Ganz langsam streckte Emily die Hand aus. So vorsichtig wie möglich drückte sie die Klinke nach unten und schob die Tür ein klitzekleines Stück weit auf. Mit einem Auge spähte sie hinaus. Weit konnte sie allerdings nicht sehen, dazu war es zu dunkel. Die Laternen der Straßenbahn beleuchteten Birken und Erlen. Der Boden war mit Heidekraut bedeckt und
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