Hüter der verborgenen Bücher (Buch 1)
zusammen. Ihre Mutter legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter.
„Es ist nicht mehr weit“, sagte sie. Ihre Stimme klang im stillen Wäldchen seltsam laut.
Der Weg führte auf eine Lichtung, die von jungen Birken umstanden war. In der Mitte befand sich ein kleines steinernes Gebäude. Es war nicht viel höher als ein erwachsener Mensch und sah aus wie ein quadratischer Turm. Auf jeder der vier Seiten gab es ein Tor, so dass man durch den Turm hindurch schauen konnte. Obwohl er alt aussah und mit Moos bewachsen war, bröckelten die Steine nicht und wirkten, als wären sie noch immer fest zusammengefügt.
Emilys Mutter blinzelte nervös und begann zu sprechen:
„Du erinnerst dich vielleicht an die Geschichten über Andri Rubinstern, die wir dir erzählt haben…“
Sie brach ab und warf einen hilfesuchenden Blick zu ihrem Mann. Der schien allerdings genau so nervös zu sein wie sie selbst. Jedenfalls rieb er seine Brillengläser derart kräftig trocken, dass sie Sprünge bekamen davon.
„Nur weiter, nur weiter“, murmelte er auffordernd.
Emilys Mutter holte tief Luft.
„Also… du erinnerst dich?“, fragte sie.
„Natürlich erinnere ich mich“, sagte Emily. Schließlich dachte sie jedes Mal daran, wenn sie ihre Mechanik sah oder das Familienalbum betrachtete.
„Und du erinnerst dich… vielleicht… auch, dass wir dir gesagt haben… ich meine, Levin und ich… dass nichts davon stimmt?“, fuhr Frau Rubinstern zögernd fort.
Emily nickte und überlegte, dass ihre Mutter in letzter Zeit ungewöhnlich oft stotterte.
„Nun“, sagte diese, „wir haben… ähm… vielleicht nicht ganz die Wahrheit gesagt.“
Emily holte tief Luft, als sie begriff, worauf ihre Mutter hinaus wollte.
„Es stimmt also?“, fragte sie aufgeregt. „Es stimmt alles, was Andri und die anderen Rubinsterns erzählt haben? Ich wusste es! Ich wusste es die ganze Zeit!“
In diesem Moment zerbrachen die Brillengläser unter den Händen ihres Vaters endgültig.
„Ja“, murmelte er und betrachtete traurig die Überreste seiner Sehhilfe. „Ja, es stimmt alles.“
Die Gedanken in Emilys Kopf schlugen Purzelbäume, und ihr Herz klopfte vor Aufregung. Sie schaute zum Turm. Ihre Mutter nickte, als sie ihren Blick bemerkte.
„Dort sind sie durchgegangen“, sagte sie. „All die Rubinsterns, die verschwunden sind. Auch Sophia. Sie lebt… auf der anderen Seite .“ Sie seufzte, als könne sie das selbst nicht wirklich glauben.
„Aber… habt ihr schon immer gewusst, dass die Geschichten wahr sind?“, wollte Emily wissen.
„Nein.“ Olivia Rubinstern rieb sich über die Stirn. „Sophia hat es uns erst vor einiger Zeit erzählt. Bis dahin waren wir überzeugt gewesen, dass die Sache mit dem Familiengeheimnis eine Spinnerei ist.“
„Und ihr wart noch nie dort drüben?“, fragte Emily weiter.
Ihre Eltern schüttelten den Kopf.
„Dieser Turm führt nur sehr wenige Menschen dorthin“, erklärte ihr Vater. „Uns nicht.“
„Aber mich schon“, vermutete Emily. Der Vater nickte.
In diesem Moment gingen Emily sehr viele Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Sie dachte an ihr Zuhause, an ihre Eltern, die sie sehr vermissen würde, an die Gegend, in der sie aufgewachsen war, an ihre alten Freunde… aber sie dachte auch daran, dass das Abenteuer zum Greifen nah war. Sie hatte sich so oft ausgemalt, wie es wäre, diesen verborgenen Ort zu entdecken, genau so mutig zu sein wie Andri, ihr Vorfahre. Und jetzt sollte sie wirklich auf die andere Seite gehen, dorthin, wo es all die magischen und geheimnisvollen Dinge gab, von denen Andri gesprochen hatte…
Emily kniff die Augen zusammen und spähte zum Turm.
„Na dann“, sagte sie entschlossen.
Mit traurigem Blick schaute Olivia Rubinstern zu ihrem Mann.
„Siehst du“, murmelte sie. „Ich habe dir doch gesagt, dass sie es toll finden wird.“
Schwermütig erklärte er seiner Tochter:
„Du brauchst nur durch diesen Turm zu gehen, dort drüben wirst du abgeholt. Durch den Turm hindurch , verstehst du?“
„Ja, klar“, nickte Emily.
„Gib das bitte Sophia.“ Ihre Mutter drückte ihr ein kleines Paket in die Hand. Es sah aus wie das Päckchen, das am Tag zuvor im Briefkasten gelegen hatte. Jetzt war es allerdings etwas ordentlicher eingepackt. „Und falls jemand dich fragen sollte, woher du kommst, erzählst du nicht die Wahrheit, hörst du? Sophia hat gesagt, du sollst behaupten, dass du aus der Mondstadt stammst. Dann wird niemand weiter
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