Hüter des Todes (German Edition)

Ethan Rush zu ihm gesagt hatte über die Kleiner-Wechsmann-Skala und dass seine Frau den höchsten Wert von allen jemals getesteten Personen erreicht hatte. Irgendwas stimmt hier nicht, dachte er. Seine professionellen Instinkte rochen Scharlatanerie.
    Er legte die zehn Karten mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch, und während er dies tat, bemerkte er, wie Jennifer Rush den selbstgefällig grinsenden March fixierte. Für einen Moment schwieg sie. Dann sagte sie: «Alle falsch, nicht wahr? Entgegen jeder statistischen Wahrscheinlichkeit.»
    «Ja», gestand Logan.
    «Noch einmal, bitte. Diesmal wird keine einzige falsch sein.»
    Logan nahm die Karten auf, hob sie erneut hoch, eine nach der anderen, in der gleichen Reihenfolge wie zuvor.
    «Stern», sagte Jennifer Rush. «Wellen. Kreis. Kreuz. Stern. Quadrat …»
    Es war eine atemberaubende Leistung. Nicht ein einziges Mal zögerte sie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, und nicht eine einzige Antwort war falsch.
    «Heiliger Bimbam», murmelte Christina Romero.
    Jetzt begriff Logan. Jennifer Rush hatte beim ersten Mal absichtlich alle Karten falsch benannt. Sie hatte March seine eigenen skeptischen Worte zu schmecken gegeben. Es war eine Meisterleistung. Logan betrachtete die Frau mit neuem Respekt.
    «Empirische Beweise, Dr. March?», sagte er, indem er sich an den leitenden Archäologen wandte. «Möchten Sie die Resultate reproduzieren?»
    «Nein.» March erhob sich. «Ich habe keine Lust auf billige Zaubertricks.» Dann nickte er den dreien nacheinander zu und verließ den Raum.
    «Was für ein komischer Kauz», sagte Christina Romero und schüttelte den Kopf, während sie zu der Tür blickte, durch die March soeben nach draußen gegangen war. «Haben Sie gehört, was er gesagt hat? ‹Was ist es dann, was hier unter uns im Sudd begraben liegt? Was – wenn überhaupt irgendetwas?› Typisch Stone, jemanden wie ihn anzuschleppen und als leitenden Archäologen einzusetzen.»
    «Sie meinen, March hält das ganze Unterfangen für sinnlos?» Logan verstummte. Bis jetzt war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass Stones fabelhafte Recherchen fehlerhaft sein könnten und dass diese ganze gewaltige Unternehmung auf einer falschen Annahme basierte.
    «Aber warum hat Stone ihn dann angeheuert?», fragte er nach einem Moment.
    «Weil March vielleicht ein Arschloch sein mag und ein intellektueller Snob, aber er ist der Beste in seinem Fach. Außerdem mag Stone es, wenn jemand seine Ideen und Annahmen in Frage stellt. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum er Sie mag.» Christina Romero erhob sich. «Wie dem auch sei, ich muss wieder an die Arbeit. Wenn ich recht behalte, wird March schon bald ein paar Neuigkeiten erfahren, die ihn noch mehr vor den Kopf stoßen.» Sie sah Jennifer Rush an. «Danke für die grandiose Vorstellung.» Dann wandte sie sich an Logan. «Sie sollten ihr den Trick mit dem Strohhalm zeigen. Sie beide haben möglicherweise mehr gemeinsam, als Sie ahnen.»
    Logan sah ihr hinterher, bis sie gegangen war, dann wandte er sich wieder Jennifer Rush zu. «Ich habe mich darauf gefreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Rush», sagte er.
    «Nennen Sie mich Jennifer», antwortete sie. «Mein Mann hat mir von Ihnen erzählt.»
    «Und er hat mir von Ihnen erzählt», antwortete Logan. «Dass Sie die Inspiration für das Center waren, das er gegründet hat, und von Ihren bemerkenswerten Fähigkeiten.»
    Jennifer Rush nickte nur.
    «Ich muss gestehen, Ihre Darbietung mit den Zener-Karten gerade eben – so etwas habe ich noch nie erlebt. Ich habe diesen Test Hunderte Male durchgeführt, aber ich habe noch nie mehr als eine siebzig-, höchstens fünfundsiebzigprozentige Erfolgsquote gesehen.»
    «Dr. March geht es wahrscheinlich nicht anders », sagte sie. Sie hatte eine dunkle, seidige Stimme, die überhaupt nicht zu ihrer schlanken, zierlichen Gestalt passte.
    «Wenn Ethan Ihnen von mir erzählt hat, dann wissen Sie sicher auch, dass ich mich mit ungewöhnlichen Phänomenen beschäftige, Dingen, die sich nicht so ohne weiteres erklären lassen», sagte er. «Weswegen ich natürlich auch fasziniert bin vom Phänomen der Nahtod-Erfahrung, des ‹Hinübergehens›. Ich habe die einschlägige Literatur gelesen, und ich bin im Bilde über die bemerkenswerten Analogien in den Berichten der Betroffenen: das Gefühl von Frieden, das sie erfasst, der dunkle Tunnel, das Wesen aus Licht. Ich nehme an, Sie haben all diese Erfahrungen ebenfalls gemacht?»
    Jennifer Rush