Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
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In der zweiten Kammer musterte er die Objekte, die stellvertretend für Paris waren. Ein zerbrochener Pinsel. Eine aufgeschlitzte Leinwand. Eine Farbpalette, die dunkle Blau- und Purpurtöne umfasste. Eine winzige Kopie des Louvre. Ein zerrissenes Foto von ihr und ihrem Bruder, das ihm fast das Herz brach. Kleine Dinge, die ihm sagten, dass ihr Schuldbewusstsein wuchs.
Spätere Kammern zeigten ein japanisches Kanji-Symbol für Scham und ein anderes stand für Schuld. Ein Polizeiabzeichen. Die kleine griechische Insel, auf der Jean-Claudes Männer ihren Bruder eingeholt hatten. Dinge, von denen er glaubte, sie stellten das Leben ihres Bruders dar. Im Lauf der Jahre wuchs die Wut in Judith ganz offensichtlich, und immer mehr Gegenstände zeigten den langsamen, qualvollen Tod, Scheibchen für Scheibchen, während sie versuchten, Informationen über Judiths Aufenthaltsort aus ihm herauszuholen. In einer einzigen Zelle hatte sie so detailliert winzige Kopien seiner Folterung erschaffen, dass es nur eine Erklärung dafür gab: Ihr Geist hatte sich mit dem ihres Bruders vereint, als er im Sterben lag, und sie hatte jeden Schnitt und jede Brandwunde ebenso stark gefühlt wie er.
Eine brennende Flamme loderte in seinen Eingeweiden. Mordlust wütete in ihm und sein Körper kribbelte vor Verlangen, den Mord an Paul Henderson zu rächen. Mörderische Wut war Stefan bisher unbekannt. Er tötete eiskalt und gefühllos. Das dringende Bedürfnis, La Roux leiden zu lassen, stammte von Judith, nicht von ihm. Seine Hände zitterten nicht, sein Körper spannte sich nicht an und seine Gedanken verlangten nicht lautstark nach einem Mord. Judith hatte diese Gefühle in diesen Raum strömen lassen und sie dann hier eingesperrt, und sein Geist nahm ihren immer in sich auf. Er sog diese finstere Stimmung in seinen Körper auf.
Stefan holte Atem und schaffte es, die Wut zu unterdrücken, als er die Objektkammer in das große Kaleidoskop einfügte und die tragbare ultraviolette Lampe nachschob. Die Stablampe passte in die Röhre und strahlte die Kammer an. Er legte sein Auge an das Glas und drehte die Kammer. Die Szenen wurden durch die Spiegelprismen in einem Strahlenkranz vervielfältigt, sodass er die Folter so sah, als blickte er durch einen makabren Alptraum hindurch, wahrscheinlich so, wie Judith von der Erinnerung heimgesucht wurde, wenn sie nachts die Augen schloss. Er drehte die Kammer.
Augenblicklich barst durch all das frische und geronnene Blut und die rasende Wut ein gewaltiger Kosmos, wie eine wüste urzeitliche Mischung reiner Gefühle. Die winzigen Funken explodierender Sterne enthüllten unabsichtlich Judiths Charakter, wenn sie sich auch noch so sehr bemühte, ihn vor sich selbst zu verbergen, und es war ein Anblick von roher Schönheit, der dennoch beängstigend war. Hier herrschte Chaos, und doch war Ordnung zu erkennen. Glühender Hass und glühende Liebe vermischten sich in einem Strudel von blanken, ungeschminkten Gefühlen miteinander, und keinem anderen Menschen stand das Recht auf diesen Anblick zu. Er warf einen Blick in Judiths entblößte Seele.
Er sah die Wahrheit, sah, wer und was sie wirklich war. Sie hatte fünf lange Jahre damit zugebracht, ihre Wut und ihre Rachegelüste auf diese Weise auszudrücken, weil Jean-Claude La Roux es verdiente, für das zu bezahlen, was er getan hatte, doch ihre wahre Essenz trug immer den Sieg davon. Das Licht in ihr, das Mitgefühl und die natürliche Leuchtkraft wollten sich einfach nicht trüben lassen. Sie hielt diese finsteren Emotionen in diesem einen Raum gefangen und versuchte sich aufzuspalten, um etwas zu werden, was sie nicht war und niemals sein konnte. Er wusste jedoch, dass er bei der Betrachtung jeder einzelnen Objektkammer diese explosiv hervorbrechenden Lichtstrahlen sehen würde, die sich über dem düsteren, feindseligen Aufbau ihres Bedürfnisses nach Rache ausbreiteten.
Die quälende Scham und das Schuldbewusstsein drehten sich weniger um den Tod ihres Bruders und des Polizisten – sie hatte sich im Lauf der Jahre gründlich mit ihrer Verantwortung auseinandergesetzt und war offenbar zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Umstände zu der Zeit ihre Fähigkeiten überschritten hatten. Die Scham und das Schuldbewusstsein hatten in diesem Raum im Verborgenen geschwärt wie eine entsetzliche Wunde, die sie nicht ausbrennen konnte. Sie war nicht in der Lage, einen anderen Menschen leiden zu lassen. Töten konnte sie mit Sicherheit
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