Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
Dennoch überprüfte er wie immer, wenn es um Sicherheitsvorkehrungen ging, alles mehrmals.
Jeder andere Raum in Judiths Haus war weiß oder cremeweiß gestrichen, ein geeigneter Hintergrund für die fröhlichen Farbtupfer, die sie großzügig im ganzen Haus und an den Wänden verteilt hatte. Hier aber fand er nur erbarmungslose Dunkelheit vor. Ein Wandgemälde erstreckte sich vom Boden bis zur Decke, dicke Baumstämme und abgebrochenes Geäst, das verstreut herumlag, Zweige, die grotesk verbogen waren und die Illusion eines finsteren, bedrohlichen Waldes hervorriefen.
Das war es also, was sie nicht länger in ihre Gemälde einfließen ließ. Sie achtete sorgfältig darauf, ihre Emotionen in unterschiedliche Bereiche aufzugliedern und sie voneinander getrennt zu halten. Das hier war ein Raum, in dem sämtliche destruktiven Gefühle untergebracht waren. Ihr war nicht klar, dass man unmöglich auf Dauer so leben konnte, wie sie es versuchte. Düstere Gefühle ließen einen oft die schwierigsten äußeren Umstände überstehen. Es gab ein Gleichgewicht im Leben und Judith hatte versucht, sich von diesem Gleichgewicht zu entfernen, da sie die dunkle Seite ihrer Seele fürchtete.
Sogar hier, in diesem Studio der Wut, konnte er die Künstlerin in ihr sehen. Die Decke über seinem Kopf war in dunklen Purpurtönen bemalt, von wogenden dunkleren Linien durchzogen, von Schlitzen, die nahezu blutrot waren. Die Wirkung war erstaunlich. Die Decke sah aus, als weinte sie dunkle Tränen. Als er sie ansah, fühlte er, wie sich Kummer in sein Herz einschlich, eine heimtückische Ranke von Emotionen, die sich tief in seinen Geist hineinwand. Er riss den Blick von der faszinierenden Farbmontage los und inspizierte die Wände.
Auf den Wänden waren die Farben gesprenkelt, dicke Schnüre, die zu Ranken aus Hass und Wut gekrümmt worden waren. Kummer tropfte durch den schwarzen Wald der Wut. Die Blutstropfen waren lebhafter, das Messer, das sich in schnellen Wutausbrüchen durch die Farbe schnitt, während dieses tiefe Purpur seine Tränen über all das ergoss. Kerzen standen auf den Tischen und in den Regalen, viele bis auf den Stummel heruntergebrannt, und die Pfützen aus Wachs, die sich um die Kerzenenden herum gebildet hatten, wurden zu einem Bestandteil der makabren Atmosphäre. Ein gruseliger Ölgeruch durchdrang den Raum und trug zu dem morbiden, fast schon grausigen Gefühl bei, das von den Wänden ausgeströmt wurde.
Er war wieder einmal vollständig von ihr umgeben, von ihren finstersten Momenten, ihren intimsten, schaurigsten Gedanken. Ihre Kaleidoskopwerkstatt war fröhlich und bunt, das Studio, in dem sie malte, schön und beschwichtigend, doch dieses Studio war das absolute Gegenteil, obwohl er fand, dass selbst in der erbarmungslosen Dunkelheit noch Schönheit lag, vor allem, weil, ganz gleich, was sie empfand, immer die Künstlerin in ihr hervorkam.
»Oh, moj padschij angel, du bist ja so verloren«, murmelte er vor sich hin.
Stefan wusste, dass er ein Phantom war, das seine Heimat in den Schatten hatte, aber zumindest wusste er genau, wer er war und wie er dorthin gelangt war. Judith traute sich selbst nicht – ihr war nicht klar, dass sie sich durch die Existenz dieses Raumes nur noch mehr in ihrem Glauben bekräftigte, total verkorkst zu sein. Fünf Jahre der Wut und des Kummers hatten Form angenommen und waren an diesem einen Ort eingesperrt. Niemand konnte es über einen längeren Zeitraum in diesem Studio aushalten, ohne von den erbarmungslosen destruktiven Gefühlen angesteckt zu werden.
Er trat dicht vor das Gemälde, an dem sie gerade arbeitete, entfernte langsam die Abdeckung und richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf. Sein Atem stockte. Seine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Das war Judiths Alptraum. Die Folter und der Tod ihres geliebten Bruders. Scharfe Glasscherben mit dunklem Blut auf den Spitzen schlitzten in zornigen Linien die Leinwand auf. Kühne, zornige Pinselstriche, mit einem breiten Pinsel gezogen; in dieses Gemälde flossen keine der zarten kleinen Pinselstriche ein, die er in all ihren anderen Werken bemerkt hatte. Die einzige wirkliche Farbe war in einem kühnen und leuchtenden japanischen Schriftzeichen zu finden. Er wusste, dass es der Name ihres Bruders war, der über die Blutströme und den gemarterten, zerbrochenen Körper gemalt war.
Er sah genauer hin und Judiths Augen starrten ihn aus dem Bild an, schaurig, mit einer Mischung aus Kummer und Zorn. Seine eigenen
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