Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
darunter auch ihr Bruder, aber er würde nicht wollen, dass seine Schwester ihr Leben damit verbrachte, Rachepläne zu schmieden. Wenn Paul sie so sehr liebte, wie sie ihn geliebt hatte – und das war aus allem, was er bisher gesehen hatte, ersichtlich –, dann war das Letzte, was er sich wünschen würde, dass Judith ihre Gabe vergeudete, indem sie sie fürchtete. Sie war kraftvoll und ausdrucksstark in ihrer Kreativität und ebenso leidenschaftlich in ihrem Geist, und dazu zählte die gesamte Bandbreite ihrer Emotionen, nicht nur die zarteren.
Stefan stand langsam auf, streckte seine Muskeln und merkte jetzt erst, wie groß seine Anspannung in dem finsteren Studio gewesen war. Er fühlte sich erschöpft und brauchte einen sicheren Ort, an den er sich zurückziehen konnte. Nicht das Hotel, in dem sich Thomas Vincent einquartiert hatte – das kam überhaupt nicht in Frage. Falls Ivanovs Verletzungen doch nicht so schwer waren, wie Stefan annahm, würde er Jagd auf ihn machen. Er könnte ihm jetzt schon in seinem Hotelzimmer eine Falle gestellt haben und Stefan war viel zu müde, um sich damit abzugeben. Müde Männer machten Fehler.
Man hatte ihm beigebracht, unbeirrt weiterzumachen, ganz gleich, wie sehr es seinen Körper strapazierte. Dann kam seine Willenskraft zum Tragen und gab ihm den notwendigen Schwung, um weiterzumachen, bis sein Vorhaben ausgeführt war. Er war es gewohnt weiterzuarbeiten, wenn er übermüdet oder verwundet war oder tagelang nicht gegessen oder geschlafen hatte, aber der Tribut, den dieser Ansturm von Emotionen von ihm forderte, war schlimmer als alles, was er jemals erlebt hatte. Der Kampf, sich gegen das Bombardement derart intensiver destruktiver Energien zu schützen, hatte ihn restlos ausgelaugt.
Stefan begann sich durch die hohen Gräser und Sträucher zu schlängeln, um wieder auf die Seite des Hauses zu gelangen, von der aus er Judiths Schlafzimmer sehen konnte. Er hoffte ohne große Überzeugung, sie sei ins Bett gegangen, aber der Regen fiel noch zu gezielt. Jemand dirigierte die Symphonie und jedes Element leistete seinen Beitrag, doch Judith verstärkte die Kräfte aller anderen. Wenn er sich selbst gegenüber aufrichtig war, wollte er sie noch einmal sehen, damit er sicher sein konnte, dass ihr nichts fehlte. Da er sie jetzt gefunden hatte, widerstrebte es ihm, von ihr getrennt zu sein.
Aus dem Augenwinkel sah er etwas Großes, das von oben auf ihn zukam, als er um die Ecke des zweistöckigen Hauses bog. Er kauerte sich zusammen und sah dem Geschöpf entgegen, das sich schnell näherte, um ihn anzugreifen. Die Eule stieß mit ausgefahrenen Krallen stumm herab und hatte die Absicht, ihm die Augen auszukratzen. Erst im letzten Moment erkannte sie ihn von dem Bild, das Lev den Vögeln übermittelt hatte, um seine Zugehörigkeit zu bekunden, und versuchte den raschen Sturzflug mit kräftigen Flügelschlägen abzufangen. Klauen streiften sein Gesicht unter dem linken Auge und dann war der Vogel fort, schwang sich in den Himmel auf und peilte den nächstbesten Baum an.
Stefan berührte den brennenden Kratzer in seinem Gesicht, der so heiß wie ein Brandeisen glühte. Er hatte Glück gehabt. Die Eule hätte ihm das Auge aushacken können. Möglicherweise würde er seine Meinung über die Vögel als Wachposten revidieren müssen, denn die Eule hatte sich brutal und völlig lautlos auf ihn gestürzt. Die Flügelfedern dämpften das Geräusch des nachtaktiven Raubvogels im Flug und erlaubten ihm einen vollkommen lautlosen Angriff. Stefan bezweifelte, dass er so glimpflich davongekommen wäre, wenn sein inneres Warnsystem nicht so gut funktioniert hätte – selbst dann, wenn der Vogel ihn als einen Freund erkannte.
Die Eule ließ sich im Wipfel der Kiefer nieder, legte ihre Flügel dicht an ihren Körper an und starrte mit ihren runden Augen in die Bäume hinunter, die auf dem kleinen Hügel über Judiths Haus dicht zusammenstanden. Stefan störte etwas daran, wie konzentriert der Vogel die kleine Anhöhe im Auge behielt. Er war erschöpft, hatte mit unbekannten Gefühlen zu kämpfen und versuchte die Anspannung aus seinem Körper zu vertreiben und alles auf sein Erlebnis in dem dunklen Studio zurückzuführen. Aber da der Vogel ihn jetzt auf etwas aufmerksam gemacht hatte, war er nicht mehr ganz sicher, ob sich nicht doch das Warnsystem seines Körpers lautstark meldete.
Lev, treibst du dich hier draußen rum? Er sandte die Frage mit größter Vorsicht aus, da er nicht einmal
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