Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
niemanden. Er bezweifelte nicht, dass sie sich und die Menschen, die sie liebte, glühend verteidigen würde, aber ein kaltblütiger Mord war für eine Frau mit ihrem Charakter eine Unmöglichkeit, und tief in ihrem Inneren wusste sie das selbst.
Judith wollte ihren Bruder rächen, sie hatte sogar das Gefühl, sie müsste es tun, aber sie war keine Frau von der Sorte, die so etwas jemals täte, und dieses Schuldbewusstsein nagte ständig an ihr. Sie hatte das Gefühl, sie ließe ihren Bruder ein zweites Mal restlos im Stich. Kein Wunder, dass sie oft nicht schlafen konnte.
Für Judith war es ganz natürlich gewesen, sich an ihren älteren Bruder zu wenden, damit er ihr aus einer schlimmen Lage heraushalf. Er hatte sie nach dem Tod ihrer Eltern großgezogen. Er war der Mensch gewesen, auf den sie immer hatte zählen können, und er war selbstverständlich zu ihrer Hilfe herbeigeeilt. Wahrscheinlich sah sie seinen vorwurfsvollen Blick, wenn sie die Augen schloss. Auf ihrem Gemälde waren Pauls Augen weit offen gewesen und hatten seine Schwester angestarrt, als das Leben aus ihm floss – und sie sah seinen Schuldspruch darin. Stefan wusste es besser; er wusste, dass es nicht ihr Bruder, sondern ihr Gewissen war, das an sie appellierte.
Diese Erkenntnis rührte an seinem Beschützertrieb, von dessen Existenz er nichts gewusst hatte, bevor er Judith begegnet war, und dieser Trieb war ebenso roh und unverfälscht und leidenschaftlich wie ihre ungezähmten, chaotischen Gefühle. Er musste sie eng umschlingen und sie vor Blicken von außen schützen, bis sie die beiden Hälften ihres Geistes wieder zusammenführen konnte. Sie musste sich verzeihen, dass sie sanft und freundlich war. Dass sie mitfühlend war. Judith schien nicht zu begreifen, dass die Welt ein viel besserer Ort wäre, wenn sie mit Menschen wie ihr und nicht mit Menschen wie ihm bevölkert wäre.
Sie fürchtete ihre eigene leidenschaftliche Natur so sehr, dass sie an den Tod dachte, an Mittel und Wege, andere, die sie liebte, vor sich zu schützen. Sie hatte enorme Angst, ihre dunkleren Gefühle würden, wenn sie auch noch so natürlich sein mochten, zum Schmerz und zum Leiden anderer Menschen beitragen, die sie liebte.
Stefan schüttelte den Kopf. Er dachte gar nicht daran, sie gehen zu lassen. Er wusste, dass er die Fähigkeit besaß, jeden schattigen Ort in ihrem Innern mit seinem eigenen Geist auszufüllen und sich so tief mit ihr zu verbinden, dass sie die Last nie wieder allein tragen würde. Irgendwie verflochten sich seine Gaben mit ihren und gestatteten ihm eine so intime Nähe, dass er nicht nur Judith, sondern auch andere, von denen sie beide umgeben waren, abschirmen konnte, bis sie ihre Gabe vollständig verstanden hatte und sie kontrolliert einsetzen konnte. Das wusste er mit Sicherheit.
Er musste diesen Ort des Kummers und der Rache verlassen, ehe die Gefühle, die hier eingesperrt waren, so überwältigend wurden, dass selbst seine Kraft ihnen nicht mehr gewachsen war. Im Gegensatz zu Judith besaß sein Geist nicht die Leuchtkraft, die über jedes finstere Gefühl siegte. Er hatte Schutzschilde, aber sogar ihn drohte die Kraft in diesem Raum zu überwältigen.
Mit großer Sorgfalt legte er die ultraviolette Lampe und die Objektkammern für das Kaleidoskop wieder an ihre Plätze zurück, deckte das Kaleidoskop zu und vergewisserte sich, dass die Stoffbahn genauso dalag wie vorher. Stefan sah sich ein letztes Mal in dem Studio um, weil er sichergehen wollte, dass alles wieder so aussah, wie er es vorgefunden hatte, und nichts darauf hinwies, dass jemand Judiths Geheimnis entdeckt hatte. Er zog die Vorhänge wieder zu und verriegelte beide Schlösser, ehe er sich auf die Terrasse setzte und die frische Luft in tiefen Zügen in sich aufsog.
Er ließ seinen Kopf in seine Hände sinken und nahm den Regen nicht wahr, der herunterkam. Es war nur ein ganz leichter Schauer und ihm waren die frischen, sauberen Wassertröpfchen auf seiner brennenden Haut willkommen. Der Regen fühlte sich an wie Tränen auf seinem Gesicht, als er aufblickte, um zu beobachten, wie das Wasser vom Himmel fiel. Judith brauchte ihn und er war unendlich dankbar für diese Erkenntnis. Er hatte geglaubt, sie würde seine Rettung sein, aber es war durchaus möglich, dass auch er etwas in ihre Verbindung einbringen konnte.
Sie musste sich so akzeptieren, wie sie war – unfähig, anderen ein Leid anzutun. Sie musste begreifen, dass jeder Mensch finstere Gedanken hatte,
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