Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
Augen brannten und seine Eingeweide waren aufgewühlt. Scham und Schuldbewusstsein brachen über ihn herein, eine schwere Decke, die ihn niederdrückte und seinen Brustkorb über seinem Herzen fast zerquetschte. Intellektuell wusste er, dass es nicht seine eigenen, sondern ihre Gefühle waren, die Intensität, die jedes Mal über sie hereinbrach, wenn sie dem geballten, gnadenlosen Kummer nachgab und sich in diesen Raum zurückzog, um das Gemälde zu überarbeiten. Nur hier glaubte sie ihren Gefühlen gefahrlos freien Lauf lassen zu können.
Sie hatte die graphisch detaillierte Darstellung des Todes ihres Bruders nicht signiert, aber sie hatte ihr Leben eingehaucht. Er konnte fast sehen, wie sich die Gestalten durch diesen Raum voller Blut und Schmerz bewegten. Die Männer waren übereinander hergefallen, während ihr Bruder im Todeskampf lag und keuchend seine letzten Atemzüge tat. Der leblose Körper des Polizisten, der über Judith zusammengesackt war und sie in das Blut und das zerfetzte Fleisch ihres Bruders presste, während das Blut und das zerstückelte Fleisch des Polizisten sie bespritzte.
Es war eine schaurige Szene, sogar für einen Mann, der an Gewalttätigkeit gewöhnt war, vor allem, weil man sie durch die Augen einer Frau sah, die das Opfer liebte – durch Judiths Augen. Er wusste, dass es ein unfertiges Gemälde war, weil sie es noch nicht mit ihrem Namen signiert hatte. Es spielte keine Rolle, wie oft er sich sagte, dass es Judiths Gefühle waren; sein Herz zersprang trotzdem fast vor Schmerz. Als er in ihre Augen sah und das Schuldbewusstsein, die Wut und den Kummer dort entdeckte, fühlte er eine mörderische Wut in seinem Bauch glimmen und immer stärker werden, je länger er das Gemälde anstarrte. Er musste das für sie in Ordnung bringen.
Ein Muskel in seiner Mundpartie zuckte, als er das Gemälde wieder abdeckte. Er hatte ihr gesagt, er sei der Richtige und könnte das für sie erledigen. Ihr Bruder war nicht gefoltert worden, um Informationen aus ihm herauszuholen, die für die Staatssicherheit eines Landes eine entscheidende Rolle spielten; es war als eine Lektion gedacht gewesen. Er wusste, dass er sein eigenes Leben und seine eigenen schrecklichen Sünden rechtfertigte, aber jetzt ließ sich nicht mehr ändern, was die Männer, die sein Leben geformt hatten, aus ihm gemacht hatten. Er konnte das für sie tun, und wenn jemand verdient hatte zu leiden, bevor er starb, dann war das Jean-Claude La Roux.
Mitten im Raum war ein großer Gegenstand mit einem dunklen Tuch abgedeckt. Das Tuch schien sich zu bewegen, obwohl es ganz ausgeschlossen war, dass eine Brise diese Bewegung verursacht hatte. Das leichte Kräuseln lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Stoff. Der Raum flüsterte, ein hinterhältiges Summen in seinen Ohren, das nie laut genug wurde, um einzelne Wörter zu verstehen.
Er ging um den Gegenstand herum, der ihm fast bis zur Brust reichte, und benutzte nur seine Fingerspitzen, um die Stoffbahn zu entfernen. Das Kaleidoskop war riesig, fast so groß wie ein Teleskop zum Betrachten des Nachthimmels, und es stand auf einem hohen Stativ. Vier individuelle versiegelte Objektkammern waren in einem schwarzen Behälter gestapelt und eine fünfte, an der sie zu arbeiten schien, lag darauf. Er vermutete, jede Kammer stellte ein Jahr dar, das vergangen war, ohne dass der Mörder ihres Bruders einen angemessenen Preis für sein Verbrechen bezahlt hatte. Als er die Kammern in die Hand nahm, konnte er nicht erkennen, was sie enthielten.
Verwirrt untersuchte Stefan alle Kammern aus jedem erdenklichen Blickwinkel und legte sie sorgsam in der richtigen Reihenfolge nebeneinander. Zwar blieben ihm immer die kleinsten Einzelheiten im Gedächtnis haften, aber er ging trotzdem methodisch vor, überprüfte jede Kleinigkeit mehrfach und riskierte nicht, dass jemand seine Anwesenheit wahrnahm. Kein echtes Phantom konnte es sich leisten, das winzigste Detail zu übersehen.
Er drehte die erste Objektkammer in alle Richtungen. Sie war mit Mineralöl gefüllt und versiegelt, und sie war eindeutig fertiggestellt, aber ganz gleich, wie oft er den Strahl der Taschenlampe darauf richtete – er konnte die Gegenstände nicht erkennen, die darin herumschwimmen sollten. Er zog die Stirn in Falten, als sein Verstand mit dem Problem beschäftigt war. Sie würde keine leeren Kammern benutzen, aber sie hatte offenbar eine Möglichkeit gefunden, das, was sich in ihnen befand, zu verbergen. Als sie ihn durch ihre
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