Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
Er sah sie tief unter der Oberfläche glimmen. Verdammt noch mal, sie hatte ihn total durcheinandergebracht und ihn in ein Chaos voller Widersprüche gestürzt, etwas, was er noch vor wenigen Stunden für unmöglich gehalten hätte.
Sie beugte sich hinunter, um mit dem Mann zu sprechen, der auf dem Boden saß. »Ist Ihnen warm genug, Bill?«
Er nickte. »Blythe hat mir Socken und neue Stiefel gebracht.« Er deutete auf seine Füße, die unter seiner Decke herausschauten. »Die letzten Tage hatten wir schönes Wetter.« Sein Blick wanderte zu Stefan und wandte sich sofort wieder ab. »Ich habe heute den Teufel gesehen. Er stand auf der anderen Straßenseite, dort drüben.« Er deutete auf das Geländer, das die Straße von den Klippen trennte. »Der Teufel hatte den Tod in den Augen.«
Judith sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich weiß nicht, was das heißen soll.«
»Wie der da.« Bill deutete auf Stefan. »Er hat den Tod in den Augen.«
Judith blickte mit einer Spur von Hilflosigkeit zu Stefan auf und schüttelte den Kopf, als wollte sie sich für diesen Vorwurf entschuldigen. Diese kleine Beobachtung sagte Stefan mehr über den alten Mann, als er in den letzten zwei Wochen erfahren hatte. Höchstwahrscheinlich besaß er übersinnliche Gaben, und das war mit ziemlicher Sicherheit der Grund, weshalb ihn Sea Haven angelockt hatte; außerdem war er zu irgendeiner Zeit auf die eine oder andere Weise Soldat gewesen und hatte wahrscheinlich im Vietnamkrieg gedient.
»Bill, möchten Sie, dass ich Sie ins Krankenhaus bringe?«
Stefan war klar, dass sie glaubte, der alte Mann sei krank, aber Bill hatte zweifellos Petr Ivanov mit seinen toten Augen gesehen und ihn als einen Psychopathen erkannt. Den Eliminator konnte man leicht mit dem Teufel gleichsetzen, der den Tod mit sich herumtrug. Er wollte nicht näher darüber nachdenken, was dieser Mann in seinen eigenen Augen gesehen hatte.
Bill schüttelte den Kopf und schreckte zurück, als sei die Vorstellung, ins Krankenhaus zu gehen, viel schlimmer, als dem Teufel ins Gesicht zu sehen, und vielleicht traf das für ihn ja zu.
»Haben Sie heute etwas gegessen?«
Bill nickte. »Ich habe im Laden und im Café noch was gut.«
Judith lächelte ihn an. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Bill.«
»Ihnen auch, Miss Judith«, murmelte der alte Mann.
Stefan erkannte deutlich, dass Bills Zuneigung echt war. Er mochte Judith wirklich. Es hatte ihn geballte Anstrengung gekostet, den Mann im Lauf der Zeit dazu zu bringen, dass er überhaupt ein paar Worte mit ihm wechselte, aber über einen Austausch von Höflichkeiten war es nicht hinausgegangen. Der gelegentliche heiße Kaffee mit frischem Gebäck hatte nicht genügt, um seine Zunge zu lösen.
»Das, was er über Sie gesagt hat, tut mir leid«, sagte Judith. »Manchmal ist er verwirrt. Er lebt schon seit Jahren auf der Straße. Jeder steuert etwas bei, sogar die älteren Gymnasiasten. Sie zahlen in den Geschäften kleine Beträge für ihn ein. Er ist allerdings nicht bereit, viel Hilfe anzunehmen. Er hat mehrere Schlafplätze und will nicht in ein Obdachlosenheim gehen, was nicht heißen soll, dass wir hier eines hätten.« Sie seufzte. »Es gibt so gut wie keine Hilfe für solche Leute.«
»Er will keine Hilfe«, erwiderte Stefan aufrichtig. »Er ist frei. Er lebt so, wie er leben will.«
Sie schwieg einen Moment lang und lief ein paar Schritte, ehe sie wieder zu ihm aufblickte. »Meinen Sie? Er war schon hier, als ich hergekommen bin, und Inez sagt, er war schon zwanzig Jahre vorher da. Er ist tatsächlich hier zur Schule gegangen und war dann eine Zeitlang fort. Als er zurückkam …« Sie zuckte die Achseln.
»Er hat das Recht, selbst zu entscheiden. Er hat für dieses Recht gekämpft und es steht ihm zu, das zu tun, was er tun will. Wenn er die Entscheidung trifft, zwei Tage lang in der Sonne zu sitzen, ohne sich zu rühren, dann hat er das Gefühl, das Richtige zu tun.«
Judith warf sich das Haar über die Schulter und sah ihm in die Augen. Auch diesmal nahm er wieder diese seltsame, beunruhigende Reaktion in seiner Magengrube wahr.
»So habe ich das noch nie gesehen. Ich denke immer, er ist traurig, und dann fühle ich mich schlecht und wünschte, ich fände eine Möglichkeit, ihm zu einem besseren Leben zu verhelfen.«
Stefans Hand legte sich gegen seinen Willen auf ihr Kreuz, eine Geste, die für jeden außer ihm ganz natürlich gewesen wäre. Die linke Hand. Die mit der juckenden Handfläche. So wie er
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