Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
Gebäuden eine Holzbank. Ein Obdachloser saß nicht etwa auf der Bank, sondern auf dem Boden und lehnte zusammengekauert an dem Gebäude. Er beobachtete schlicht und einfach das Meer, das weiße Gischt hoch in die Luft aufsprühen ließ, wenn es gegen die Klippen schlug.
Ein paar Häuser weiter schien sich die kleine Schar der Weinverkoster vor der Tür eines Ladens versammelt zu haben; alle redeten gleichzeitig und lachten und nahmen ihm damit jede Chance, Geräusche aufzuschnappen, die ihm dabei geholfen hätten, Ivanovs exakten Standort zu bestimmen. Für ihn bestand kein Zweifel mehr daran, dass eine Waffe auf ihn gerichtet war, denn der Radar seines Körpers bestätigte es ihm. Der Feind war dort draußen und beobachtete ihn.
Er drehte seinen Kopf zu Judith um, beugte sich ein wenig zu ihr hinunter, lächelte und hörte ihr zu und machte sich gleichzeitig an eine Bestandsaufnahme jeder möglichen Deckung zwischen ihnen und Judiths Wagen. Maßnahmen zur Selbsterhaltung erfolgten bei ihm automatisch; sie waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen und er würde immer das Kennzeichen jedes Fahrzeugs um ihn herum wahrnehmen, die Gebäude und die Landschaft, den natürlichen Fluss seiner Umgebung. Er war wie ein Chamäleon, das sich anpasste, um nicht aufzufallen, eine Schlange, die eine Haut nach der anderen abwarf, da sie mühelos nachwuchs – ein Schatten ohne eigene Substanz.
Sie näherten sich dem Obdachlosen. Der Mann hatte eine Hand in seiner Jacke, wo er problemlos eine Waffe verbergen könnte. Stefan gestattete seinem Blick, über den Mann zu gleiten und jede Einzelheit wahrzunehmen. In den letzten zwei Wochen, während er den Ort ausgekundschaftet hatte, hatte er ihn täglich irgendwo gesehen und viele Male mit ihm gesprochen. Oft waren die Menschen, die auf der Straße lebten, über jeden Fremden informiert, der in den Ort kam, und es erwies sich häufig als nützlich, gute Beziehungen zu ihnen zu unterhalten. Außerdem wäre es einfach und keine schlechte Tarnung gewesen, in die Rolle eines Obdachlosen zu schlüpfen. Ivanov war eine solche Tarnung durchaus zuzutrauen und das war der Grund dafür, dass sich Stefan mit jedem Obdachlosen in der kleinen Ortschaft bekannt gemacht hatte.
Er hielt sich am äußeren Straßenrand, etwas, was er normalerweise niemals getan hätte. Er war jetzt in höchster Alarmbereitschaft. Wenn er sich irrte und Ivanov nicht im Wasserturm oder auf einem Hausdach war, wäre er in der Rolle als Obdachloser nah an sein Ziel herangekommen. Stefan hatte sein Messer im Ärmel stecken und konnte es werfen, bevor Ivanov einen Schuss abgeben konnte. Der Obdachlose roch wie sonst und sah auch so aus, aber ein Profi brächte auch das zustande.
»Einen Moment, Thomas.« Judith berührte seinen Arm, als sie sich dem kleinen Hof näherten.
Die zarte Berührung ihrer Finger war kaum zu spüren, doch er fühlte Wärme in sich eindringen, die seine Konzentration beeinträchtigte – und das durfte er nicht zulassen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Ganz gleich, was um ihn herum vorging oder wer bei ihm war – sein Leben drehte sich ausschließlich um die Jagd und das Überleben.
Stefan wusste nicht, ob er sie in die nächste dunkle Gasse zerren, sie an eine Hauswand pressen und sie küssen sollte, bis sie genauso besinnungslos war, wie er es zu sein schien, oder ob er ihren Kopf mit beiden Händen packen und fest genug daran reißen sollte, um ihr das Genick zu brechen, weil er die Nase von diesem Zirkus voll hatte. Instinktiv ließ er sich einen Schritt zurückfallen, gerade weit genug, um seinen Posten zu beziehen. Sein Magen verkrampfte sich. Der Schraubstock war wieder da und zerquetschte sein Herz, bis seine Brust schmerzte. Dieser Gedanke ließ ihn stutzen. Wie hoffnungslos war er ihr bereits verfallen, wenn er so verflucht verzweifelt war? Sein Selbsterhaltungstrieb und sämtliche Instinkte drängten ihn mit einem schrillen Schrei, schleunigst den Rückzug anzutreten, solange er es noch konnte.
»Es dauert nur einen Moment«, sagte Judith, die nicht merkte, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing.
Innerlich verfluchte er sich für seine Unfähigkeit zu überwinden, wer und was er war – sogar bei einer Unschuldigen. Er hatte einen Radar für den Feind, ob Mann oder Frau, und dieser Radar hatte ihn bisher nicht ein einziges Mal im Stich gelassen. Sie war nicht das, was sie vor aller Welt verkörperte; in ihr waren zu viele Gefühle angestaut, die sie der Welt vorenthielt.
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