Huff, Tanya
lange?"
Was immer zwischen den beiden passiert sein mochte: Diese
Frage wurde in einem Ton gestellt, der deutlich machte, daß Dr. Seto nicht für
Mikes Verschwinden verantwortlich war. Sollte sie ihn irgendwann einmal
bewußtlos schlagen und in einen Keller schleifen, dann sicherlich nicht, weil
sie ihm an die Nieren wollte. Vicki wandte ihren Blick von den Magengeschwüren
- sie konnte nichts dagegen tun - ab, fing den Blick der Ärztin und hielt ihn
fest. „Ja. Schon sehr lange."
Dr. Seto blinzelte, schwankte ein wenig und mußte sich mit
einer Hand auf dem Tisch abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Einen Moment lang hatte sie befürchtet, in silbriger Finsternis zu versinken,
umhergewirbelt von wilden, ungezügelten Wellen aus reiner Energie. Ich muß
dringend wieder mal ausschlafen! „Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht behilflich
sein", murmelte die Ärztin dann leise und richtete sich auf. „Ich weiß
nicht, wohin er gegangen ist, nachdem er die Klinik verlassen hat."
Logischerweise hatte er eine der anderen Kliniken
aufgesucht - aber welche? In welcher Reihenfolge war er vorgegangen? Nun war
die Spur
seit Stunden kalt. Vicki fühlte sich etwas hilflos.
Energisch schob sie dieses Gefühl beiseite und wühlte in den Tiefen ihrer
Tasche nach einer von Henrys Visitenkarten. „Ich danke Ihnen, daß Sie sich Zeit
für mich genommen haben. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, könnten Sie
dann dieses Handy anrufen?"
„Es gibt nichts mehr, was mir noch einfallen könnte."
„Falls, Frau Doktor."
„Na gut. Falls."
„Ich dachte, Vicki wartet zu Hause in der Wohnung auf
Mikes Anruf."
,Vielleicht hat er ja angerufen."
Tony schnaubte. .Vielleicht hatte sie keine Lust mehr zu
warten."
„Das glaube ich sofort." Mit zum Fenster geneigtem
Kopf prüfte Henry aufmerksam die Eastside-Gerüche, die hier noch in der Luft
hingen und sich mit den ebenso starken, aber unendlich viel angenehmeren Düften
Chinatowns mischten. Der Vampir tat sein bestes, seine Reaktion auf das sichere
Wissen um die Tatsache, daß jemand anderes in seinem Revier herumschlich, gar
nicht erst aufkommen zu lassen. „Hier ist es. Hier ist ihr Duft am
stärksten." Mit zusammengebissenen Zähnen lenkte er den BMW an den
Bordstein.
Tony starrte über den Freund hinweg auf die dunklen
Fenster der East Hastings-Klinik. „Du meinst, sie ist hier reingegangen?"
„Ich glaube, sie will gerade da um die Ecke biegen."
Tony mochte sich noch so sehr anstrengen: Mehr als eine
vage Silhouette in der Ferne konnte er nicht entdecken. „He, was steigst du
aus dem Auto?"
Henry grinste düster. „Ich verschaffe mir
Manövrierraum."
Vicki hatte von Anfang an gewußt, daß sie Celluci nicht in
der East Hastings-Klinik antreffen würde, es sei denn als Gefangenen. Dennoch
war sie zutiefst verärgert, daß er nicht dagewesen war. Einen Gefangenen hätte
sie befreien können. „Wenn ich den Typen erwische und er nicht in
Fuß- und Handschellen geht, dann schiebe ich ihm die
nächstbeste Telefonzelle ..."
Sie wirbelte herum, um sich der Brise zu stellen, die
Hände nach vorn gestreckt, das Gewicht auf die Fußballen verlagert.
„Hat er angerufen?"
„Nein."
Henry nickte bedächtig. Eine andere Antwort hatte er nicht
erwartet. „Du hattest keine Lust mehr zu warten."
„Ich habe Notizen gefunden, die darauf hindeuteten, daß er
sich hier, in der Klinik, befinden könnte."
„War er hier?"
„Nein." Sie spie das Wort vor die Füße auf die Straße
zwischen ihnen beiden, denn nun hatte sich ihr Zorn von Mike auf Henry
verlagert, einfach, weil Henry da war. Fast wäre sie ihm an die Kehle
gegangen. Sie spürte schon, wie sie sich anspannte, wie sie sich auf den
Angriff vorbereitete.
Auch Henry bereitete sich vor, aber ihm fiel es leichter,
die Fassung zu wahren. Er wußte, daß der, der die Beherrschung nicht verliert,
letztlich auch eher siegen kann. „Das bringt niemanden weiter, Vicki."
„Denkst du denn, das wüßte ich nicht?" knurrte die
Vampirin. „Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie sehr es mich nervt, daß ich
nicht mehr auf dich wütend werden kann, ohne dich gleich vernichten zu
wollen?" Sie hob die Hand und wehrte Henrys Erwiderung ab und verharrte
dann reglos in der Hoffnung, die Erinnerung daran, was nach der Schlachtorgie
geschehen war, würde sie auch jetzt wieder beruhigen. Zu ihrer großen
Erleichterung klappte es im großen und ganzen. „Also!" verkündete sie dann
und ging auf das Auto zu. „Wie war
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