Huff, Tanya
wissen, zu welchem Zweck er sich verkauft?"
„Die ficken wildfremde Typen für zwanzig Piepen! Wer
stellt da schon groß Fragen, wenn es um einen Tausender geht?" Tony
wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab und öffnete die Augen. „Wohin
jetzt?"
Henry, der gerade an einer Ampel hatte halten müssen,
zuckte die Achseln. „Ich weiß ..." In diesem Moment flog sein Kopf zum
geöffneten Fenster.
„Was ist?"
„Der Duft..."
„Du meinst Gestank."
„Nein. Ich meine Vicki."
Die Klinik war geschlossen, das Wartezimmer dunkel und
leer, aber Vicki spürte, daß sich in dem Gebäude ein Lebewesen aufhielt. Ein
winziger Lichtstrahl, kaum sichtbar, der offenbar unter einer der Innentüren
hindurchdrang, legte die Vermutung nahe, daß jemand in den hinteren
Räumen der Klinik noch spät nachts arbeitete. Ein ziemlich
ausgefeiltes Alarmsystem überzeugte Vicki davon, von einem Frontalangriff
besser Abstand zu nehmen.
„Es gibt unter Garantie einen weiteren Eingang",
murmelte sie, „und sei es auch nur, damit der Feuerwehrhauptmann zufrieden
ist."
Vicki hielt sich in den Schatten verborgen und ging die
Columbia Street hinunter bis zu der Hintergasse, die den Straßenblock hier in
zwei Hälften teilte. Im ersten Müllcontainer, den sie in dieser Gasse
passierte, schliefen zwei Menschen. Aus dem zweiten angelte eine alte Frau sich
gerade ihr Abendessen. Als Vicki näherkam, ließ sich die Alte von dem
Containerrand, auf dem sie gehockt hatte, zu Boden fallen, in der einen Hand
einen halbvollen fettigen Pappkarton Bratreis mit Rind, in der anderen ein
kurzes Stahlrohr.
„Verdammte Saubande. Laßt mich bloß in Ruhe!"
Die Frau war weder betrunken noch auf Droge - beides hätte
Vicki gerochen, selbst in all dem Gestank, den die Gasse und ihre Bewohner ausströmten
-, also war sie wahrscheinlich eine von tausenden von Psychiatriepatientinnen,
die im Zuge der Einsparungen im Gesundheitssystem des Landes auf der Straße
gelandet waren.
„Ich sag' dir, verpiß dich!"
Erstaunt darüber, mit welcher Kraft die Frau den Schlag
gegen sie geführt hatte, fing Vicki das Rohr ab und schob der Alten zwei
Zehner in die Finger. So kaufte sich die weiße Mittelschicht von ihren Schuldgefühlen
los - Mikes Meinung nach. Womit er recht haben könnte. Zur Lösung des Problems
trug das Geld ganz sicher nicht bei, aber es zu geben war besser, als gar nichts
zu tun. Zumindest ein wenig besser.
Die alte Frau roch an dem Geld und hielt es dann Vicki
wieder hin. „Ich geh' nicht mit Ihnen mit!" sagte sie. „Auch nicht, wenn
Sie den Großen mitbringen."
„Den Großen?"
„Der einem sonst das Geld anbietet. Ein großer Typ, sehr
groß. Hat Augen, sanft wie eine ganze Herde Kühe, als könnte Scheiße in seinem
Mund schmelzen, und wenn man ihm in die Augen sieht, könnte man ihm fast
trauen. Aber innen drin, da ist er fies und gemein, und das weiß ich
genau." Das Hirn der Frau schien eine Kehrtwende gemacht zu haben, denn
nun verschwand Vickis Geld in den mindestens drei Lagen Kleidung, in die die
Alte gehüllt war. „Hüte dich vor dem Großen!" Plötzlich hockte sie sich
an den Fuß der Mauer, klemmte sich das Stahlrohr
unter den Arm und fing an zu essen. „Verdammte
Gören", knurrte sie abschließend.
Vicki ging weiter.
Die Klinik hatte eine eigene Parkbucht, eine ziemlich enge
Sache, selbst für den winzigen Importwagen, der dort geparkt stand, und eine
Hintertür, die aus solidem Industriestahl gefertigt war. Über der Tür leuchtete
eine helle Lampe, die Vicki die Tränen in die Augen trieb. Sie blinzelte, und
dann fiel ihr auf, wie viele Dellen die Tür zierten. Die meisten schienen von
Stiefelkappen zu stammen, aber irgend jemand hatte es hier, wie man an gewissen
Spuren sehen konnte, auch einmal mit einem Brecheisen versucht, allerdings
erfolglos. Ein kleines Schild neben der Tür wies darauf hin, daß man klingeln
sollte, wenn das Licht über der Tür brannte. Unter dem englischen Text standen
chinesische Schriftzeichen, und Vicki ging davon aus, daß der chinesische Text
ungefähr dasselbe besagte.
Warum eigentlich nicht! Vicki drückte auf den
Klingelknopf, hörte im Hausinnern die Glocke läuten und spürte, wie das
Lebewesen näher kam.
„Ja? Kann ich Ihnen helfen?"
Die Stimme einer Frau; genauer: die Stimme einer jungen
Frau. Mit neutraler Miene wandte sich Vicki an das Gitter der
Gegensprechanlage. „Mein Name ist Vicki Nelson, ich bin Privatermittlerin und
suche nach Michael Celluci."
„Celluci?"
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