Huff, Tanya
war erstaunt, als sie Henry in den Lichtkreis
stürmen sah, ein plötzlich auftauchender Schatten, das bleiche Gesicht, die
hellen Haare kaum zu erkennen. Der Schütze in ihrer Nähe murmelte etwas, das
sich wie „Bullen!" anhörte, und als sie genau hinsah, mußte sie
feststellen, daß der Mann Henry im Visier hatte.
Der Schuß löste sich in dem Moment, als Vickis Faustschlag
den Schützen traf und ihn in hohem Bogen durch die Luft schleuderte. Henrys
Schmerzensschrei übertönte das Geräusch, mit dem der Kopf des Schützen nach
dem Sturz aus neun Metern Höhe auf dem Zementfußboden aufschlug: Es hörte sich
an wie der Aufprall einer überreifen Melone.
Nun stieg der Geruch von Henrys Blut auf und überlagerte
sofort den beißenden Gestank des Schießpulvers, den heißen Metallgeruch verschossener
Kugeln und den warmen, fleischigen Geruch der Männer da unten auf dem Boden.
Vicki roch Henrys Blut, das Blut, durch das sie zur Vampirin geworden war.
Der Hunger durchbrach alle Barrieren.
Wie in Zeitlupe schien die Zeit zu vergehen. Henrys Blick
glitt von dem roten Fleck, der sich langsam auf den Fingern seines rechten
Handschuhs ausbreitete, zu dem Loch in seinem Arm. Schmerzen spürte er keine.
Ich habe einen Schock, sagte er sich. Dann hob er den Kopf und sah, wie ein
junger Mann mit eiskalten Augen sein Maschinengewehr so in Anschlag brachte,
daß es genau in seine Richtung zielte. Jede Bewegung war gezielt und
durchdacht; Henry schien es, als bewege er sich unter Wasser. Er streckte die
Hand aus, griff nach der Mündung des Maschinengewehrs und schlug dem Schützen
die Waffe ins Gesicht.
Als der Gangster fiel, pochte es einmal heftig in Henrys
Wunde, und ein kurzer Schmerz durchzuckte seinen Körper. Dann gewann die Zeit
ihr normales Tempo wieder.
Er spürte Vickis Wutschrei eher, als daß er ihn hörte und
hatte nicht die Kraft, sich am Antworten zu hindern.
Dyshino hielt seine verletzte Schulter umklammert und sah
schreckensbleich zu, wie ein weiterer seiner Männer zu Boden ging. Er war tot,
noch ehe sein Körper auf dem Zement aufschlug.
Von allen Regalverstrebungen prallten Kugeln ab.
Einer von Engs Männern lugte, die Venen vollgepumpt mit
Adrenalin, hinter einem Gabelstapler vor und verteilte wild grinsend seine
Kugeln in die Grobrichtung, in der er Dyshinos Leibwächter vermutete. Bei einigen
der anderen Männer galt dieser Schütze als durchgeknallt; er liebte Szenen wie
diese, den Lärm, das Chaos, das ganz und gar Unpersönliche des Tötens. Als sei
man mitten in einem Videospiel! Welchen Kitzel brachte es denn schon, sich
lautlos anzuschleichen und einen einzigen Schuß abzugeben?
Mit einem Mal wandelte sich das Grinsen des Mannes zu
einer schmerzverzerrten Grimasse; ein eiserner Griff, den er nicht abschütteln
konnte, hielt seine Schultern umklammert und er fühlte sich emporgehoben, um in
der Fahrerkabine des Gabelstaplers abgesetzt zu werden.
Er schrie.
Seine Finger spannten sich um den Abzug seiner Waffe.
Er schickte zweien seiner Gefährten den Tod: einen völlig
unpersönlichen Besucher.
Beide Seiten stellten ungefähr zur selben Zeit fest, daß
sie es mittlerweile mit einem Feind zu tun hatten, der es auf alle Beteiligten
abgesehen hatte. Leider war es da schon viel zu spät.
Der letzte Heckenschütze kletterte von den Dachsparren und
versuchte verzweifelt, dem Tod zu entkommen. Er glitt aus, aber es gelang ihm,
auf den Beinen zu bleiben, und er fing an zu rennen, sobald er festen Boden
unter den Füßen hatte. Ein Schritt, zwei...
Vicki streckte eine Hand aus, packte den Mann am
Hinterkopf, drückte ihn zu Boden und legte seinen Hals bloß - alles in einer
einzigen Bewegung.
Dieses Blutbad war nicht, was David Eng geplant hatte. Der
Mafiaboß kauerte hinter einer Rolle Vinylfußbodenbelag - der, den man nie zu
wachsen braucht - und legte sacht die Hand auf die Schulter seines
Stellvertreters. Als dieser sich zu ihm umwandte, wedelte er mit seiner Ingram
in Richtung auf die Ausgangstür, die leider sehr weit entfernt war. „Laß uns
abhauen."
Der andere nickte erleichtert, und die beiden Männer machten
sich auf den Weg den Korridor hinunter. Sie gingen langsam, Rücken an Rücken,
und einer gab dem anderen Deckung. Fast hatten sie die Tür schon erreicht, da
tauchte aus der Finsternis ein bleiches Gesicht auf.
„Wo wollt Ihr denn hin?" zischte Henry, legte die
Hand um die Ingram und drückte die Pistole zu Boden. Das Magazin leerte sich in
einem Sprühregen aus kleinen
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