Huff, Tanya
die die Mülltonnen durchgehen und nach Sachen
suchen, die sie verkaufen können. Manche arbeiten mit Haken, manche tauchen
einfach direkt in die Tonnen." Tony schob die Hände in die Vordertaschen
seiner Jeans und trat mit der Fußspitze gegen ein Stück Zement, das aus dem
Bürgersteig gebrochen war. Sein Gesicht lag im Schatten, und doch konnte
Celluci erkennen, dass ihm die Tatsache, daß er im Vergleich zu den Obdachlosen
fast schon als wohlhabend gelten konnte, peinlich war. „In Vancouver gibt es
viele Penner. Ist ja auch irgendwie logisch. Ist tausendmal besser, als sich
drüben im Osten den Arsch abzufrieren und zu krepieren." Mir ist egal,
wie Sie das werten, implizierte sein Ton.
Celluci jedoch, der oft genug in jedem Winter die
sterblichen Überreste von Menschen in Leichensäcken hatte verstauen müssen,
die an die Grundmauern millionenschwerer Bürotürme gekauert der Kälte erlegen
waren, die bloßliegende Haut an den Stahlgittern der Luftschächte der U-Bahn
festgefroren, meinte nur: „Da magst du Recht haben."
Ein paar Minuten lang gingen die beiden schweigend nebeneinander
her.
„Ich habe ein neues Leben hier", verkündete Tony dann
plötzlich. „Ich habe Arbeit, ich gehe zur Schule, ich habe eine Chance
bekommen, und das wäre nie passiert, wenn es Henry nicht gäbe."
„Hast du das Gefühl, du seiest ihm dafür etwas schuldig?"
„Etwa nicht? Ich schulde ihm wirklich etwas."
„Hat Henry je angedeutet, daß er das auch so sieht?"
Celluci wußte verdammt genau, daß dem nicht so war. Henry Fitzroy mochte zwar
ein arroganter, untoter Autor von Liebesromanen sein, aber er war kein Mann,
der die Seele eines anderen als Lehen beanspruchte.
„Henry braucht gar nichts zu sagen, ich spüre das auch
so." Tony schlug sich dramatisch gegen die Brust, um seinen Worten
Nachdruck zu verleihen. „Hier."
„Gut. Was ist mit all den Dingen, die du für Henry getan
hast?"
Tony schnaubte. „Was denn?"
„Alles, was so bei Tageslicht erledigt werden muß. Leute,
mit denen man sich befassen, Arrangements, die man während der Büroöffnungszeiten
treffen muß." Celluci blickte auf Tony hinab und fand dessen hellblaue
Augen unverwandt auf sein Gesicht gerichtet. „Selbst wenn man gewisse andere
Bereiche der Beziehung einmal außer Acht lässt ...", Mikes rechter Daumen
fuhr über die winzige Narbe an seinem linken Handgelenk, „... wirst du
feststellen, wie sehr sich das alles ausgleicht."
„Henry vertraut mir sein Leben an." Das klang fast
wie eine Frage.
„Du hast ihm auch dein Leben anvertraut."
Die Straßenlaterne über den beiden gab ein schwaches
Brummen von sich; der jüngste Hit einer populären Hardrockband pulsierte durch
ein unbeleuchtetes, offen stehendes Fenster, und beide Männer sprangen hastig
zurück, als ein Ford Mustang Cabriolet mit offenem Verdeck die Granville Road
hinab und auf die Brücke zubretterte.
„Sollen das sechzig sein, du Arsch?" schrie Tony,
sprang auf die Straße und zeigte dem Wagen, dessen hellgelbe hochgezogene
Stoßstange in der Nacht verschwand, den berühmten Stinkefinger. „Die Idioten in
ihren schnellen Autos denken doch alle, die Brücke sei die gottverdammte
Autobahn!" ereiferte er sich immer noch, als er bereits zusammen mit Mike
auf der anderen Straßenseite stand. „Die würden doch noch nicht mal halten,
wenn sie einen überfahren haben!"
„Fühlst du dich jetzt besser?"
Tony wußte nicht genau, ob sich der Detective auf seinen
Wutausbruch bezog oder auf die Unterhaltung, die diesem Ausbruch vorangegangen
war. Er zuckte die Achseln - dann war ihm mit einem Mal klar, daß er sich in
der Tat besser fühlte. „Ja!" sagte er. Als sie noch einen Straßenzug
hinter sich hatten, fügte er hinzu: „Danke."
Vicki öffnete die Tür zur Lagerhalle, und sofort strömte
Blutgeruch in die Nacht. Vicki schluckte; sie hatte Mühe, sich zu beherrschen.
Eine ungläubige kleine Stimme in ihrem Hinterkopf wollte dringend wissen, was
zum Teufel sie vorhatte. Sie schenkte der Stimme keine Beachtung, trat über
die Schwelle und ging lautlos den dunklen Korridor entlang, der von zwei hohen,
bis zur Decke reichenden Regalen voller Industriekacheln gebildet wurde.
Da, wo ein zweiter Korridor den Mittelgang querte, fand
sie eine Leiche. Man hatte dem Mann viermal in den Rücken geschossen und dabei
die Pistole direkt aufgesetzt; so machten die Profis das gern: Es dämpfte den
Schall aus der Pistolenmündung, weshalb weniger Gefahr bestand, gehört zu
werden.
Vor
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