Huff, Tanya
Erzäh len, daß ihre
Mutter dringend mit ihr hatte sprechen wollen und daß sie, Vicki, nicht ans Telefon gegangen war?
Allen diesen Menschen sagen, daß ihre
Mutter tot war?
„Nein." Vicki spürte, wie sich Mikes
Hand auf ihre Schulter legte und stellte fest, daß ihre Stimme nicht gerade
fest geklungen hatte. Sie hu stete und sah
sich fast panisch um. „Da. Die kleine Frau im braunen Man tel." Auf die Frau zu zeigen war Vicki
unmöglich, denn dann wäre zutage getreten,
wie sehr sie zitterte. „Das ist Dr. Burke. Meine Mutter hat die letzten fünf
Jahre für sie gearbeitet. Vielleicht will sie etwas sagen."
Hellblaue Augen richteten sich einen Moment lang auf
einen Punkt knapp hinter Vicki. Was immer Reverend
Crosbie auch von Cellucis Ge sicht hatte ablesen können, es
schien ihm zu reichen, denn er nickte und sagte ruhig: „Ich werde mit Dr. Burke
reden." Wieder schloß sich seine warme Hand um Vickis.
.Vielleicht haben wir beide ja noch später Gele genheit, uns zu
unterhalten?"
„Vielleicht."
Cellucis Griff um Vickis Schulter verstärkte sich, als
der Reverend ging. „Alles in Ordnung?"
„Mir geht's prima." Keine wirkliche Lüge, dachte
Vicki, denn sie ging nicht davon aus, daß Celluci ihren Worten
Glauben schenken würde.
„Vicki?"
Das war eine Stimme, die Vicki gut kannte,
und sie drehte sich erwar tungsvoll um. „Tante Esther."
Die große, hagere Frau öffnete die Arme, und Vicki ließ sich hineinsinken.
Esther Thomas war die beste Freundin ihrer Mutter gewesen. Die beiden waren
zusammen aufgewachsen und zur Schule gegangen, waren Braut und Brautjungfer,
Brautjungfer und Braut gewesen. Solange
Vicki denken konnte, hatte Esther an einer Schule in Ottawa
unterrichtet, aber die Tatsache, daß sie in verschiede nen Städten lebten, hatte der Freundschaft der beiden Frauen keinen Abbruch getan.
Esthers Wangen waren feucht, als sie und Vicki wieder
auseinandertra ten. „Ich hatte schon befürchtet, ich würde
es nicht rechtzeitig schaffen." Sie schniefte und wühlte in ihrer Handtasche
nach einem Taschentuch. „Ich bin mit
Richards Wagen hier, diesem sechszylindrigen Panzer, aber auf dem Highway 15
finden Straßenbauarbeiten statt. Man sollte es nicht für möglich halten: Wir
haben gerade mal April! Sie kriegen doch wahrscheinlich noch Schnee. Verdammt,
ich ... vielen Dank! Sie sind Celluci, nicht
wahr? Wir sind uns einmal begegnet, vor drei Jahren, kurz nach Weih nachten. Sie waren nach Kingston gekommen, um Vicki
abzuholen."
„Ja, ich erinnere
mich."
„Vicki..." Esther putzte sich die Nase und machte
einen neuen Anfang. „Vicki, ich muß dich um einen Gefallen
bitten. Ich möchte ... sie noch einmal sehen."
Vicki
trat einen Schritt zurück, landete auf Mikes Fuß und bemerkte das nicht einmal. „Sehen?"
„Ja. Um mich zu verabschieden." Nun flossen die
Tränen in Strömen, und Esther versuchte vergeblich, sie fortzuwischen. „Wenn
ich sie nicht sehen kann... dann kann ich nicht glauben, daß Marjory wirklich
tot ist!"
„Aber ..."
„Ich weiß, das ist nicht vorgesehen, aber ich dachte, wir
beide könnten vielleicht kurz einen Moment... ehe es
losgeht."
Vicki hatte das Bedürfnis, einen letzten Blick auf die
Toten zu werfen, nie verstehen können. Eine Leiche war eine
Leiche, und sie hatte im Lau fe der Jahre genug davon gesehen, um
sagen zu können, daß sie, was die wesentlichen Dinge
anging, alle gleich waren. Sie wollte ihre Mutter nicht so im Gedächtnis
behalten, wie sie auf dem Tisch des Leichen schauhauses gelegen
hatte, und sie wollte sie ganz gewiß jetzt nicht se hen,
zurechtgemacht wie ein Mannequin, nur, um in die Erde versenkt zu werden. Aber Esther schien das zu brauchen.
„Ich rede mit Hutchinson", hörte
Vicki sich sagen.
Wenig später gingen die drei den Mittelgang
der Kapelle entlang; der dichte rote Teppichboden schluckte das
Geräusch ihrer Schritte.
„Wir sind auf diese Eventualität
vorbereitet", sagte Hutchinson, als sie sich dem Sarg
näherten. „Oft wollen sich Freunde oder Verwandte auch hei einem geschlossenen
Sarg noch ein letztes Mal von dem Verstorbenen verabschieden, und ich bin
sicher, daß Ihre Mutter fast so aussieht, wie Sie sie in Erinnerung haben, Ms.
Nelson."
Statt einer Antwort preßte Vicki die
Lippen zusammen.
„Die Andacht wird bald beginnen", fuhr
der Bestattungsunternehmer fort, während er einen Verschluß
löste und die obere Sarghälfte langsam hochhob. „Also fürchte ich, Sie werden ...
werden ..."
Hutchinsons Finger
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